Lobbyismus in der EU

Neue EU-Kommission: Vorfahrt für Konzerne?

Die „Strategische Agenda“ für die Arbeit der neuen EU-Kommission in den nächsten fünf Jahren rückt die Wettbewerbsfähigkeit in den Vordergrund. Das hat die Industrie mit einer großen Lobbykampagne durchgesetzt und könnte zu Lasten der EU-Klimapolitik und anderer Interessen des Gemeinwohls gehen. Wir haben uns angesehen, wer diese problematische Agenda vorantreibt.

von 3. Juli 2024

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich am 27. Juni 2024 auf eine „Strategische Agenda“ für die Arbeit der EU-Kommission in den nächsten fünf Jahren geeinigt. Diese ist für die Arbeit der EU-Kommission nicht bindend, setzt aber die Leitplanken, innerhalb derer sie sich bewegen wird.

Der Green Deal, eines der zentralen Projekte von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer ersten Amtszeit, ist in den Hintergrund gerückt. Der neue Fokus liegt auf der Wettbewerbsfähigkeit.

Damit haben sich vor allem die großen europäischen Wirtschaftsverbände durchgesetzt . Diese hatten in den letzten Monaten vor der Europawahl in einer großen Lobbykampagne dafür gesorgt, dass sich die EU auf Maßnahmen konzentriert, die angeblich die Wettbewerbsfähigkeit fördern.

Was steckt hinter der Forderung nach mehr Wettbewerbsfähigkeit?

Der Ruf nach mehr Wettbewerbsfähigkeit klingt zunächst nachvollziehbar. Der Druck auf europäische Unternehmen im globalen Wettbewerb steigt immer weiter. Zunehmend drängen chinesische und US-Anbieter auf den europäischen Heimatmarkt, etwa bei Elektroautos.

Doch ein genauerer Blick zeigt, wie problematisch die Folgen eines undifferenzierten Rufs nach mehr Wettbewerbsfähigkeit sein können. Denn vor allem die großen Wirtschaftsverbände verstehen darunter niedrigere Steuern und weniger gesetzliche Regeln für Unternehmen in Europa. Nicht die Rede ist hingegen davon, dass sich europäische Unternehmen einem schärferen Wettbewerb unterziehen sollten, um unter Innovationsdruck zu kommen und auf diese Weise gegenüber der Konkurrenz wettbewerbsfähig zu sein. Eine Agenda der Wettbewerbsfähigkeit im Sinne der Industrieverbände könnte damit zu weniger Regeln zum Schutz der Umwelt, der Beschäftigten und der Verbraucher:innen führen, statt zu einer mittelfristig innovationsfähigeren Wirtschaft.

Besonders problematisch dabei ist, dass strengere Regeln für Unternehmen grundsätzlich als Problem dargestellt werden, ebenso wie politisches Handeln im Sinne des Gemeinwohls. Unternehmensinteressen werden dagegen als entscheidend für das Wohl der Gesellschaft definiert. Dies legitimiert den einseitigen Lobbyeinfluss der Wirtschaft und setzt Regulierungsvorhaben unter hohen Rechtfertigungsdruck. Der Ruf nach mehr Deregulierung im Namen der Wettbewerbsfähigkeit führt so zu höheren Hürden für dringend notwendige ökologische und soziale Anliegen.

LobbyControl/Holger Müller - CC-BY-NC-ND 4.0

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Lobbykampagne europäischer Wirtschaftsverbände

Es ist kein Zufall, dass der Ruf nach Wettbewerbsfähigkeit die Debatten vor und nach der Europawahl bestimmt hat. Mit einer breit angelegten Lobbykampagne ist es vor allem den europäischen Wirtschaftsverbänden gelungen, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Wir haben uns angesehen, wer hinter dieser Kampagne steht:

European Chemical Industry Council (Cefic)

  • Lobbyausgaben in der EU: Über 10.000 Mio. Euro pro Jahr
  • Treffen mit der EU-Kommission 2019-2024: 80 Treffen

Der European Chemical Industry Council (Cefic) ist der einflussreiche Verband der europäischen Chemieindustrie. Unter seinen 650 Mitgliedern finden sich große Konzerne wie Bayer, BASF und BP sowie nationale Wirtschaftsverbände wie der deutsche Verband der Chemischen Industrie (VCI). Die Führung des Verbands übernehmen regelmäßig die Chefs großer Chemiekonzerne, schon häufiger der jeweilige CEO der BASF.

Im Februar 2024 veranstaltete Cefic einen Chemiegipfel mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem belgischen Premierminister Alexander De Croo. Auf dem BASF-Gelände in Antwerpen wurde die „Antwerp Declaration for a European Industrial Deal“ verabschiedet. Dieser EU Industrial Deal fordert als Gegenpol zum Green Deal unter anderem eine weitreichende und schnelle Deregulierung unter dem Deckmantel von Wettbewerbsfähigkeit und Innovation, die auch den Abbau bestehender Sozial- und Umweltvorschriften beinhaltet. Zudem soll die zukünftige Entwicklung und Umsetzung wirksamer Regulierungen erschwert werden.

Dagegen gab es deutlichen Protest. In einem offenen Brief haben kurz nach der Wahl mehr als 120 Organisationen die EU aufgefordert, von diesen Plänen abzurücken.

Business Europe

  • Lobbyausgaben in der EU: 4 bis 4,5 Mio. Euro pro Jahr
  • Treffen mit der EU-Kommission 2019-2024: 216 Treffen

Business Europe ist der Lobbyverband der europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände. Mit über 200 Lobbytreffen hatte der Akteur mit Abstand die meisten Treffen mit der EU-Kommission in den letzten fünf Jahren. Ein Schwerpunkt der Lobbyarbeit von Business Europe ist die Aufweichung der konkreten EU-Klimaziele.

Bereits im November 2022 veröffentliche Business Europe die „Stockholm Declaration“. Mit dieser wollte der Lobbyverband Einfluss auf die schwedische Ratspräsidentschaft nehmen. Eine der zentralen Forderungen darin war, eine „regulatorische Atempause“, um die Wettbewerbsfähigkeit von KMUs und größeren Unternehmen zu stärken.

In einem Brief an Ursula von der Leyen forderte Business Europe im März 2023 erneut eine „regulatorische Atempause“, um „den Wettbewerbsvorteil europäischer Unternehmen wiederherzustellen“.

Kurz vor den Europawahlen im April 2024 startete Business Europe die Lobbykampagne „Reboot Europe“. In einem von vielen Medien aufgegriffenen Bericht forderte der Lobbyverband, „die Wettbewerbsfähigkeit in den Vordergrund zu stellen“. Regulierungen im Umweltbereich stünden diesem Ziel im Wege. Business Europe bezeichnet die Aktivitäten der letzten EU-Kommission sogar als "Regulierungs-Tsunami" und fordert daher weniger Regeln für Unternehmen.

Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)

  • Lobbyausgaben in der EU: 3,5 bis 4 Mio Euro pro Jahr
  • Treffen mit der EU-Kommission 2019-2024: 92 Treffen

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist der Spitzenverband der deutschen Industrie. Mit zahlreichen Unternehmen im Hintergrund und großer Nähe zu den Entscheidungsträger:innen in der Bundesrepublik übt er großen Einfluss auf die Politik in Brüssel und Berlin aus.

In mehreren Pressemitteilungen warnte der BDI kurz vor der Europawahl vor zu strengen Klimaschutzzielen, die zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gehen würden. Und auch im EU-Lieferkettengesetz sieht der BDI einen „Rückschlag für Europas Wettbewerbsfähigkeit.

Der BDI ist zugleich auch Mitglied im europäischen Arbeitgeberverband Business Europe.

Svenskt näringsliv

  • Lobbyausgaben in der EU: 500.000 bis 600.000 Euro pro Jahr
  • Treffen mit der EU-Kommission 2019-2024: 30 Treffen

Svenskt näringsliv ist der schwedische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband. Dieser hat im November 2023 in Brüssel die Initiative Europe Unlocked ins Leben gerufen und finanziert diese.

Mitglied von Europe Unlocked ist unter anderem der deutsche Bund der Arbeitgeber (BDA). Organisiert wird Europe Unlocked von Dentons Global Advisors, einer der größten Lobbying-Agenturen in Brüssel. Der Agentur steht für die Initiative ein Budget von 300.000 bis 400.000 Euro zur Verfügung. Ziel der Initiative ist es, neue Regelungen, die z.B. im Rahmen des Green Deal eingeführt werden sollen, als problematisch darzustellen. Zentrales Stichwort ist auch hier die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.

Computer and Communications Industry Association (CCIA)

  • Lobbyausgaben in der EU: 500.000 bis 600.000 Mio Euro pro Jahr
  • Treffen mit der EU-Kommission 2019-2024: 3 Treffen (Seit der Registrierung im Januar 2024)

Auch die großen Tech-Konzerne beteiligen sich indirekt an der Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit. Die Computer and Communications Industry Association (kurz CCIA) ist einer der wichtigsten Lobbyverbände der Tech-Industrie in der EU. Finanziert wird sie unter anderem von Google, Amazon, Meta & Co.

Ende Mai hat die CCIA eine Studie über die Wettbewerbsfähigkeit in der digitalen Industrie veröffentlicht, die von der Big Tech-finanzierten Universität EUI in Florenz verfasst wurde. Darin wird unter anderem als Maßnahme eine Pause bei der neuen Gesetzgebung vorgeschlagen. Die neuen Regeln, die die Macht der Tech-Konzerne einschränken sollen, wie der Digital Markets Act (DMA) oder der Digital Services Act (DSA) werden von der CCIA als „wirklich exzessiv und selbstzerstörerisch“ für die Wirtschaft bezeichnet.

European Round Table for Industry (ERT)

  • Lobbyausgaben in der EU: 400.000 bis 500.000 Euro pro Jahr
  • Treffen mit der EU-Kommission 2019-2024: 78 Treffen

Der European Round Table for Industry (ERT) ist eine einflussreiche Lobbygruppe, die sich aus CEOs und Vorständen von mehr als 50 der größten transnationalen Unternehmen in der Europäischen Union zusammensetzt.

Der ERT hat in der Vergangenheit immer wieder Lobbyarbeit für die sogenannte „better regulation agenda“ betrieben. Aufgrund dieser Strategie der EU-Kommission werden alle wichtigen EU-Gesetze zunächst einer Prüfung unterzogen, welche Auswirkungen sie auf die Wirtschaft haben. Dies geschieht noch bevor das EU-Parlament die Gesetzentwürfe zu Gesicht bekommt. Was zunächst positiv klingen mag, verbirgt ein zutiefst problematisches Konzept. Es hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass wirtschaftspolitische Aspekte in der EU-Gesetzgebung wesentlich stärker berücksichtigt werden als z.B. beschäftigungs- und umweltpolitische Belange.

Im April 2024, kurz vor den Europawahlen, beteiligte sich der ERT auch an der Lobbykampagne für Wettbewerbsfähigkeit. In einer Studie sprach sich der ERT für weniger Bürokratie und weniger Regulierung aus.

Wie geht es jetzt weiter?

Den europäischen Wirtschaftsverbänden ist es gelungen, eine ihrer zentralen Forderungen in der „Strategischen Agenda“ der Mitgliedstaaten für die EU zu verankern. Entscheidend wird nun sein, genau hinzuschauen, was dies für die konkrete Arbeit der EU-Kommission bedeutet.

Dabei kommt insbesondere den Abgeordneten im EU-Parlament eine wichtige Rolle zu. Sie haben die Möglichkeit, einer einseitigen Agenda für Konzerne entgegenzuwirken und sich für stärkere Klimaschutzziele einzusetzen. Einfach wird das nicht, da die Anzahl an rechtspopulistischen Abgeordneten im Parlament gestiegen ist und auch die Europäische Volkspartei, die am meisten Sitze gewonnen hat, ganz auf das Dogma der „Wettbewerbsfähigkeit“ setzt.

Zudem ist es für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments oft nicht einfach, im hektischen Alltag den Überblick zu behalten. Entscheidungen müssen zum Beispiel unter Zeitdruck getroffen werden. Da bleibt oft nicht viel Zeit, um Informationen zu beschaffen und auszuwerten. Da viele der Abgeordneten neu sind und wenig Erfahrung mit finanzstarken Lobbyist:innen und verdeckten Lobbykampagnen haben, wollen wir für Aufklärung sorgen. In den nächsten Wochen werden wir die neuen Abgeordneten kontaktieren und ihnen umfangreiches Informationsmaterial über Lobbying in der EU zur Verfügung stellen.

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