In der Woche nach der Stop TTIP-Demo fragte nicht nur Petra Sorge im Cicero, warum die größte Demonstration seit dem Irak-Krieg in den deutschen Medien so gut wie gar nicht stattfand. In den meisten Zeitungen fanden sich nur Schnipsel aus Agenturmeldungen – und diese dienten oft nur als Aufhänger, um TTIP-Befürworter und Demo-Gegner zu Wort kommen zu lassen. Berichte über das Wozu und Weshalb einer Demonstration, die rund eine Viertelmillion Menschen aus allen Teilen der Republik in die Hauptstadt mobilisierte: Fehlanzeige. Und die Debatte prägt ein Spin, der die friedliche Mammutdemo mit Pegida-Aufmärschen gleichzusetzen und die TTIP-Proteste in ein trübbraunes Licht zu rücken versucht.
„Ich sehe was, was du nicht siehst“
Die meisten Demonstrierenden werden keine Rechten gesehen haben – denn es waren offensichtlich so wenige, dass man sich schon gezielt auf die Suche begeben musste, um sie in der Menge überhaupt wahrzunehmen. Doch tatsächlich gab es im Meer der Schilder und Fahnen vereinzelt antiamerikanische oder antisemitisch anmutende Botschaften und, besonders widerlich, eine Guillotinen-Attrappe, die als Morddrohung gegen Sigmar Gabriel interpretierbar ist (für die Organistoren der Demo hat Ulrich Schneider deshalb Anzeige erstattet). Ein Leser der Nachdenkseiten berichtet, AfD-Anhänger seien „niedergebrüllt“ worden, als sie sich zu erkennen gaben. Die Unmöglichkeit, die Teilnahme von Rechten an einer so großen Demo komplett zu verhindern, macht Spiegelfechter Jörg Wellbrock nachvollziehbar.
Die Redner/innen grenzten sich deutlich gegen rechts ab und erhielten dafür ebenso großen Beifall wie die Aktivist/innen, die auf der Bühne für Solidarität mit Flüchtlingen warben. Der US-Aktivist Ben Beachy wurde gefeiert, als er klar machte, dass die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks denselben Kampf für Demokratie statt Lobbykratie kämpfen – jenseits einer Politik nationaler Beschränktheit. Nicht Marine Le Pens rechtspopulistischer Front National lief in der Demo mit, sondern das französische Linksbündnis Front de Gauche – inmitten von Gewerkschaftern und SPD-Ortsgruppen, Grünen und Linken, Kirchenkreisen und Sozialverbänden, Aktiven von Attac, Campact, Greenpeace, Mehr Demokratie und vielen anderen.
„Heimliche Anführer“: Bleiben Sie bitte zu Hause
Gleichwohl behauptete Alexander Neubacher auf Spiegel Online kurz vor Demo-Beginn, die gesamte Anti-TTIP-Bewegung werde insgeheim von Nazis und Rechtspopulisten geprägt und geführt. Die Verunglimpfung sollte ausdrücklich demobilisierend wirken und geht weit über die Beschimpfungen hinaus, die TTIP-Kritiker/innen von Befürwortern des Deals schon an den Kopf geworfen wurden. So hatte etwa der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Joachim Pfeiffer, am 1. Oktober im Bundestag TTIP-Gegner als „einfach gestrickt“ geschmäht.
Rechte versuchen sich als Trittbrettfahrer – doch ohne Erfolg
Populisten wie Le Pen, Trump oder die AfD versuchen immer wieder zu kopieren, was populär ist. So versuchen sie sich auch seit einiger Zeit als rhetorische Trittbrettfahrer der Anti-TTIP-Bewegung – doch ohne die geringste Chance zu haben, an diese Bewegung anzudocken oder ihr gar ihren Stempel aufzudrücken. Ob im Bündnis „TTIP unfairhandelbar“, im Trägerkreis der Demo, im über 500 Organisationen starken Netzwerk der Europäischen Bürgerinitiative oder in der transatlantischen Bündnisarbeit: Überall wurde und wird den Rechten die kalte Schulter gezeigt. Und das ist kein Zufall. Denn diese Bewegung verteidigt die Demokratie gegen autoritäre Inbeschlagnahme und sprengt die Beschränktheit der „nationalen Interessen“ – zum großen Ärger der TTIP-Lobby.
Die TTIP-Lobby selbst propagiert nationalistisches Gegeneinander…
Denn diese versucht tatsächlich, ihren Deal unter Rückgriff auf ein nationalistisch geprägtes Framing der Öffentlichkeit zu verkaufen. Motto: Teile und herrsche. Das einzige Argument der Verhandler und Lobbyisten für die Intransparenz der Verhandlungen lautet, dass es sich dabei um einen nationalen Poker „Wir“ (Deutschland/EU) gegen „Die“ (USA/Kanada/XYZ) handelte. Wer in solchem Gegeneinander seine „Positionen erfolgreich durchzusetzen“ (BDI) versuche, dürfe da nicht die Karten auf den Tisch legen. Bei der Bevölkerung verfängt dieses Scheinargument allerdings nicht. Und multinationale Konzerne schauen den Verhandlern sehr wohl in die Karten – auf beiden Seiten des Atlantiks.
…pusht anti-asiatische Ressentiments…
Ein weiteres Beispiel ist die Aktion „Winkekatze“ der Initative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), einer Lobbyagentur des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall. Sie ließ zeitgleich zur Demo ein Boot auf der Spree fahren – darauf grüßte eine chinesische Winkekatze mit der Botschaft, ohne TTIP würden „andere die Standards“ setzen. Und das gilt es nach INSM-Auffassung tunlichst zu vermeiden. Eine Dominanz der Chinesen, billig und in Masse auftretend, maschinell fleißig und ausdauernd, gefährlich hinter einer Maske stereotyper Freundlichkeit – da werden antiasiatische Klischees mobilisiert, die seit Kaiser Wilhelm II. Beschwörung der „gelben Gefahr“ in westlicher Unkultur und rassistischer Propaganda herumspuken. Dass Sigmar Gabriel seit Monaten in dasselbe Horn stößt, macht es nicht besser. Die Verhandlungen zwischen EU und China über ein Investitionsabkommen (inklusive privater Schiedsgerichte) stehen übrigens kurz vor dem Abschluss. Während man auf rhetorischer Ebene eine chinesische Dominanz als Schreckgespenst an die Wand malt, geht es in der realen Handelspolitik um ein globales Netz an Freihandelsverträgen, in das China eingebunden werden soll.
…hat aber nichts gegen Deals mit Menschenrechtsverletzern
Hätte die INSM tatsächlich Angst vor einer Anpassung an asiatische „Standards“, etwa bei Menschenrechten und Arbeitsbedingungen, dann müsste sie sich gegen das EU-Singapur-Abkommen engagieren. Das tut sie aber nicht. Dabei liefert dieses Abkommen nicht nur die EU-Staaten der in Singapur konzentrierten globalen Steuerbetrugsindustrie aus (das Investitionskapitel erlaubt u. a. auf EU-Staatspleiten zu wetten und im Fall der Nicht-Pleite die Staatshaushalte auf dem Weg der Schiedsgerichtsklage zu melken). Es segnet auch menschenrechtliche „Standards“ des Stadtstaats offiziell ab, der z. B. den UN-Vertrag zur Ächtung von Zwangsarbeit eigens gekündigt hat und Oppositionelle jahrzehntelang ohne Gerichtsverfahren einsperrt. Das Singapur-Abkommen liegt seit einem Jahr fertig verhandelt in Malmströms Schublade, ohne dass eine kritische Stellungnahme der INSM oder der Bundesregierung dazu bekannt wäre.
BDI-Lobbyist haut in die Diffamierungs-Kerbe
Die TTIP-kritische Spiegel-Autorin Judith Horchert wehrte sich gegen Neubachers verunglimpfende Ausfälle. Eifrige Schützenhilfe bekam er jedoch vom Chairman der Lobbyagentur MSL, Axel Wallrabenstein, der den Neubacher-Artikel tweetete und in einem weiteren Tweet noch vor der Demo behauptete, in Berlin marschierten „AfD und Linke Hand in Hand“. In einem dritten Tweet stellte er in Anlehnung an Joachim Pfeiffers Entgleisungen die TTIP-kritische „Empörungsindustrie“ der „Wohlstandsindustrie @BDI“ gegenüber.
Wallrabensteins Lobbyagentur MSL führt offiziell die Pro-TTIP-Kampagne des BDI und ist auch auf europäischer Ebene seit längerem pro TTIP unterwegs. So organisierte MSL in Brüssel schon kurz nach der Europawahl einen TTIP-Lobbyevent. Für den BDI ließ die Agentur pünktlich zur Großdemo die Berliner Innenstadt mit Pro-TTIP-Plakaten vollstellen. Weitere Plakate wurden mit Lkws durch die Straßen Berlins gefahren. Eine teure Materialschlacht. Für TTIP gehen bisher keine Menschen auf die Straße, jedenfalls nicht unbezahlt.
Auch Google gehört zu MSLs Auftraggebern
Zu den weiteren Kunden der deutschen MSL-Niederlassung gehören u. a. Sanofi, Siemens und Google. MSLs Aufgaben für Google sind laut eigener Aussage, „die politische Zielgruppe in kreativer Weise auf Googles Programme für Datenschutz und Datensicherheit hinzuweisen“ und „die Bedeutung von Google für die deutsche Wirtschaft und speziell den Mittelstand sichtbar und messbar zu machen“. Google verbindet mit TTIP & Co starke Interessen und erlitt kürzlich eine empfindliche Niederlage, als der Europäische Gerichtshof das EU-Datenschutzabkommen mit den USA verwarf und damit der unbegrenzten Verwertung europäischer Nutzerdaten durch US-Firmen und Geheimdienste einen Riegel vorschob. Mit TTIP oder CETA wäre das nicht passiert: Dann könnte Google gegen den EuGH-Beschluss vor einem Schiedsgericht klagen – oder darauf setzen, Datenschutz auf dem Wege der „Regulatorischen Zusammenarbeit“ weitgehend auszuschalten.
Keine Chance der Schlammschlacht
Die TTIP-Lobby ist in der Defensive. Die Fehler in ihren beschönigenden Studien wurden aufgedeckt, vermeintliche Argumente als Schein enttarnt. Eine endlich entstehende europäische Öffentlichkeit empört sich dagegen, mit TTIP & Co an der Nase herumgeführt zu werden. Wenn die TTIP-Lobby jetzt zu Diffamierungen greift, sollte das Anti-TTIP-Bündnis dies weder mitmachen noch in Abwehr resignieren. Sondern weitermachen, wozu nach wie vor die klare Kante gegen Rechts selbstverständlich gehört. Denn wie sagte Gandhi: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“
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