Lobbyismus in der EU

EU-Abgeordnete drängen Merkel zu mehr Transparenz während EU-Ratspräsidentschaft

Nahezu 100 Mitglieder des Europäischen Parlaments fordern Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem parteiübergreifenden offenen Brief aus Anlass der bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf, Transparenz bei der politischen Interessenvertretung und in der Gesetzgebung zu einem zentralen Anliegen der Ratspräsidentschaft zu machen.
von 12. Juni 2020

Nahezu 100 Mitglieder des Europäischen Parlaments fordern Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem parteiübergreifenden offenen Brief aus Anlass der bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf, Transparenz bei der politischen Interessenvertretung und in der Gesetzgebung zu einem zentralen Anliegen der Ratspräsidentschaft zu machen.

Gemeinwohl durch Intransparenz gefährdet

Die 92  Abgeordneten argumentieren, dass gerade jetzt, wo die EU zwei historische Krisen zu bewältigen hat – die Klimakrise und die Coronakrise – Transparenz der Entscheidungen notwendiger ist denn je. Denn während die Lobbyist:innen von großen Unternehmen der Politik auf allen Ebenen die Türen mit ihren Forderungen einrennen, sei es nach weniger „Belastungen“ durch Steuern oder Gesetze oder im Zusammenhang mit Konjunkturpaketen, besteht die Gefahr, dass das Allgemeinwohl auf der Strecke bleibt.

Die Abgeordneten rufen die EU auf, die Wiederaufbauprogramme auf soziale Gerechtigkeit, Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten sowie auf ökologische und nachhaltige Ziele auszurichten.

Koordiniert wurde der Brief von LobbyControl gemeinsam mit der Brüsseler lobbykritischen Organisation Corporate Europe Observatory. Er knüpft an bisherige Impulse von EU-Abgeordneten, der Europäischen Ombudsfrau und aus der Zivilgesellschaft an.

Zentrale Forderungen des Briefs

Der Brief ruft die deutsche Ratspräsidentschaft auf:

  • Für mehr Transparenz in den politischen Entscheidungsprozessen des Rates zu sorgen.
  • Mehr Lobbytransparenz im Rat und in Berlin eine klare politische Priorität zu geben.
  • Mit neuen Regeln und einer neuen politischen Kultur einer übermäßigen, einseitigen Lobbyeinflussnahme auf die Ratspräsidentschaft vorzubeugen.
  • Jegliches Sponsoring der Ratspräsidentschaft abzulehnen, bestehende Verträge aufzukündigen und einen Prozess einzuleiten, um diese Praxis auch künftig zu beenden.

Keine Unterstützung durch konservative Fraktion

Bedauerlich ist, dass der parteiübergreifende Brief keine Unterstützung durch Mitglieder der europäischen Volkspartei (EVP, ihr deutsches Mitglied sind CDU/CSU) erhalten hat. Das Anliegen, dafür zu sorgen, dass die nationalen Regierungen offenlegen müssen, welche Positionen sie in „ihrem“ EU-Gremium, dem Rat, vertreten und wie sie zustande kommen, wird eigentlich auch von der EVP-Fraktion unterstützt.

Thema Transparenz auf dem Tisch der deutschen Ratspräsidentschaft

Die mangelnde Transparenz des Rates ist ein Thema, dass das EU-Parlament, die EU-Ombudsfrau, die Zivilgesellschaft und nationale Abgeordnete seit Langem anprangern. Während der deutschen Ratspräsidentschaft werden zum einen die Debatten um eine Teilnahme des Rats am EU-Lobbyregister weiterlaufen. Bisher beteiligen sich nur Kommission und Parlament am Lobbyregister. Auch deshalb ist es bedauerlich, dass die beiden Chefverhandler:innen des Parlaments, Danuta Hübner (Polen, EVP) und Katarina Barley (Deutschland, Sozialdemokraten) nicht zu den Unterzeichner:innen des Briefes gehören.

Zudem liegt ein Vorschlag von zehn EU-Ländern vor, wie man mehr Transparenz des Rats durch die Veröffentlichung von Dokumenten herstellen könnte. Dazu gehört die Veröffentlichung von Protokollen der Ratssitzungen, in denen auch grobe Positionen der Mitgliedstaaten erfasst werden. Dem Vorschlag hat sich Deutschland aber bisher nicht angeschlossen.

Die Bundesregierung muss dringend erkennen, dass diese Themen äußerst wichtig sind, um für mehr Vertrauen in die EU-Institutionen zu sorgen. Wir erwarten, dass sie die Initiativen aufgreift und engagiert weiterführt.

Die 92 Mitglieder des Europäischen Parlament, die den Brief unterzeichnet haben, sind:

Alice Kuhnke MdEP, Alviina Alametsä MdEP, Anja Hazekamp MdEP, Anna Cavazzini MdEP, Anna Donáth MdEP, Aurore Lalucq MdEP, Bas Eickhout MdEP, Birgit Sippel MdEP, Brando Benifei MdEP, Christel Schaldemose MdEP, Ciarán Cuffe MdEP, Clare Daly MdEP, Claude Gruffat MdEP, Cornelia Ernst MdEP, Damian Boeselager MdEP, Damien Carême MdEP, Daniel Freund MdEP, Dimitrios Papadimoulis MdEP, Domènec Ruiz Devesa MdEP, Eleonora Evi MdEP, Erik Marquardt MdEP, Francisco Guerreiro MdEP, Giorgos Georgiou MdEP, Grace O’Sullivan MdEP, Gwendoline Delbos-Corfield MdEP, Heidi Hautala MdEP, Helmut Scholz MdEP, Henrike Hahn MdEP, Idoia Villanueva Ruiz MdEP, Isabel Santos MdEP, Jakop Dalunde MdEP, Javier Nart MdEP, Jutta Paulus MdEP, Katalin Cseh MdEP, Kateřina Konečná MdEP, Kathleen Van Brempt MdEP, Katrin Langensiepen MdEP, Kim van Sparrentak MdEP, Kira Peter-Hansen MdEP, Konstantinos Arvanitis MdEP, Lara Wolters MdEP, Leila Chaibi MdEP, Malin Björk MdEP, Manon Aubry MdEP, Manu Pineda MdEP, Manuel Bompard MdEP, Marc Angel MdEP, Marc Botenga MdEP, Marcel Kolaja MdEP, Margrete Auken MdEP, María Eugenia Rodríguez Palop MdEP, Maria Noichl MdEP, Marianne Vind MdEP, Marie Toussaint MdEP, Markéta Gregorová MdEP, Martin Schirdewan MdEP, Martina Michels MdEP, Michael Bloss MdEP, Michèle Rivasi MdEP, Mick Wallace MdEP, Miguel Urbán Crespo MdEP, Mikuláš Peksa MdEP, Monika Vana MdEP, Mounir Satouri MdEP, Nico Semsrott MdEP, Niels Fuglsang MdEP, Niklas Nienaß MdEP, Nikolaj Villumsen MdEP, Özlem Demirel MdEP, Pär Holmgren MdEP, Pascal Durand MdEP, Patrick Breyer MdEP, Paul Tang MdEP, Pernando Barrena MdEP, Petra De Sutter MdEP, Petros Kokkalis MdEP, Philippe Lamberts MdEP, Ramona Strugariu MdEP, Raphaël Glucksmann MdEP, Rasmus Andresen MdEP, Sarah Wiener MdEP, Saskia Bricmont MdEP, Sira Rego MdEP, Stelios Kouloglou MdEP, Sven Giegold MdEP, Tanja Fajon MdEP, Terry Reintke MdEP, Thomas Waitz MdEP, Tiemo Wölken MdEP, Tilly Metz MdEP, Tineke Strik MdEP, Victor Negrescu MdEP.

Hintergrund

  • Der vollständige Brief der EU-Abgeordneten an Bundeskanzlerin Angela Merkel findet sich hier (englisch).
  • Eine neue Studie von LobbyControl und CEO zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit dem Fokus auf Lobbyismus und Einflussnahme auf den Rat der EU wird am 23. Juni veröffentlicht.
  • Eine Hintergrund-Studie über den Lobbyeinfluss auf Entscheidungsprozesse der EU-Mitgliedstaaten im Rat der EU wurde von Corporate Europe Observatory im Februar 2019 veröffentlicht: „Captured states: When EU governments are a channel for corporate interests“.
  • Vorschlag von 10 EU-Mitgliedstaaten, um Transparenz und Verantwortlichkeit in der EU zu verbessern.

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