Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtete am 7. Januar 2011 über einen Gesetzesentwurf des Bundesministerium für Inneres (BMI), nach dem die Bürgerbeiteiligung bei Großprojekten in Zukunft eingeschränkt werden soll. Erörterungstermine für Bürger, so genannte „Turnhallentermine“, die gern auch tumultartige und für Projektbefürworter unangenehme Züge annehmen, sollen im Planfeststellungsverfahren demnach „fakultativ“ sein – also im Ermessen der Behörden liegen.
Das Vorhaben stößt auf deutliche Kritik. Verschiedene Journalisten wie beinahe sämtliche OppositionspolitikerInnen äußerten sich verwundert bis ablehnend, allen voran der Stuttgart-21-Star-Mediator Heiner Geißler. Der Kölner Stadt-Anzeiger hob die Geschichte mit der Überschrift „Bürgerbeteiligung unerwünscht“ sogar in den Rang einer Titel-Story. Er zitiert dabei aus einer internen Stellungnahme des Umweltministeriums an das Innenministerium, dass der Entwurf „an keiner Stelle die Erfahrungen aus ‚Stuttgart21‘ reflektiert“, Die Süddeutsche Zeitung äußerte sich ähnlich kritisch. Auch der Deutsche Anwaltsverein zeigte sich negativ beeindruckt. Der Vorsitzendes des Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland, Hubert Weiger sagte gegenüber der Presse: „Die Planungsprozesse für Großprojekte und Infrastrukturvorhaben sind hochkomplex. Umso wichtiger ist es, dass betroffene Bürger und ihre Verbände frühzeitig und umfassend einbezogen werden. Sonst entsteht zu Recht das Gefühl, Politiker und so genannte Fachexperten entscheiden ohne Beteiligung der Öffentlichkeit hinter verschlossenen Türen.“
Bürgerbeteiligung versus Industrie-Interesse
Es ist bemerkenswert, dass die Bürgerbeteiligung nach den jüngsten Erfahrungen rund um Stuttgart 21 nicht etwa gestärkt werden soll, sondern wichtige Elemente wie der Erörterungstermin ins Ermessen der Behörden gelegt werden sollen. Aber die Industrie und ihre Verbände wie der Bundesverband der Deutschen Industrie setzen sich schon lange dafür ein, dass Planverfahren vereinfacht und beschleunigt werden. Dieser Prozess läuft bereits länger als die jüngste Welle der Stuttgart 21-Proteste. Das BMI verweist zu seiner Verteidigung selbst darauf, dass Bundestag und Bundesrat schon 2006 gefordert haben, die unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen für Planfeststellungsverfahren in einem einzigen Gesetz zusammenzufassen.
Dieser zeitliche Vorlauf ist aber keine Erklärung dafür, warum das Innenministerium angesichts der aktuellen Debatte um mehr Bürgerbeteiligung nicht andere Akzente setzt. Letztlich prallen nicht nur zwei politische Debatten mit unterschiedlichen Zeitläufen aufeinander, sondern auch unterschiedliche Interessen: auf der einen Seite mehr Bürgerbeteiligung, auf der anderen Seite das Interesse vor allem der Industrie an schnelleren und einfacheren Planungsverfahren. Die nächsten Monate werden zeigen, welche Strömung sich durchsetzen wird. Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie viele Bürger und Bürgerinnen sich in die Debatte einschalten und von der Politik mehr Beteiligung einfordern.
An das Papier zu kommen, war nicht ganz so einfach
Es wird ihnen allerdings nicht leicht gemacht. LobbyControl scheiterte zunächst bei dem Versuch, den betreffenden Gesetzesentwurf einzusehen, aus dem der FAZ-Redakteur Joachim Jahn zitiert. Erstmals bekannt wurde er durch eine Meldung der Agentur dapd vom 6. Januar 2011. Auf Anfrage beim BMI war das Papier aber für LobbyControl nicht erhältlich; so stellte es die Pressestelle des Ministeriums auf telefonische Anfrage als normalen Vorgang dar, dass Gesetzesentwürfe intern herum geschickt und diskutiert werden, aber an Publizisten oder Initiativen auf Anfrage nicht heraus gegeben werden. Unter „intern“ versteht man dort offenbar auch Interessengruppen wie die Industrie- und Handelskammer, den Deutschen Anwaltsverein oder den BUND. Eine Aufstellung, welche dieser „internen“ Beteiligten zum Zirkel des BMI gehören und nach welchen Kriterien sie ausgewählt werden, war nicht zu erhalten. Diese „interne“ Vorabdiskussion – und das Beharren darauf, auch wenn die Debatte längst in der Öffentlichkeit angekommen ist – entzieht sich tendenziell den Kriterien von Transparenz und Chancengleichheit, die einen demokratischen Diskurs kennzeichnen sollten.
Letztlich haben wir den Gesetzesentwurf in der Fassung vom 6.12.2010 auf der Internetplattform Fluglärm BBI gefunden: Gesetz zur Vereinheitlichung und Beschleunigung von Planfeststellungsverfahren (Entwurf des BMI vom 6. Dezember 2010, pdf)
Befriedung oder Bürgerbeteiligung?
Weil das Gesetz eine mühsame Lektüre ist, dokumentieren wir hier als Auszug die Begründung im besonderen Teil, warum der Erörterungstermin ins Ermessen der Behörden gestellt werden soll. Interessant sind u.a. zwei Aspekte:
- Der Erörterungstermin wird vor allem als Instrument der Befriedung und Akzeptanzschaffung beschrieben. Es geht offensichtlich weniger darum, wie Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf staatliche Planungsentscheidungen nehmen können, sondern mehr darum, wie man sie dazu bringt, die staatlichen Entscheidungen zu akzeptieren.
- Zum anderen ist brisant, dass in der Begründung explizit über selektive Anhörungen nachgedacht wird, die ersatzweise nur Teilaspekte des Plans oder nur einzelne Einwender und Gruppen umfassen können. Das eröffnet große Spielräume für Behördenwillkür, bei der besonders umstrittene Fragen oder besonders scharfe Kritiker eines Projekts ausgeschlossen werden können. Ein solcher selektiver Ansatz kann auch für „Teile und Herrsche“-Strategien genutzt werden.
Wir versuchen, die weitere politische Debatte zu verfolgen, und freuen uns über Hinweise zu dem Thema.
Hier die gesamte Textpassage (S. 28-29):
„Der Erörterungstermin soll insbesondere der Verständigung über bestehende Einwände und Anregungen im Rahmen einer unmittelbaren mündlichen Erörterung dienen. Neben der Befriedungsfunktion hat der Erörterungstermin die Funktion, Verfahrenstransparenz zu schaffen und die Akzeptanz für die zu treffende Entscheidung zu fördern. Bislang war die Anhörungsbehörde verpflichtet, in jedem Fall nach Ablauf der Einwendungsfrist einen Erörterungstermin abzuhalten, wobei alle Betroffenen und Einwender zu beteiligen sind. Die Vorschriften über die Präklusion verspäteten Vorbringens bleiben hiervon allerdings unberührt; eine Erörterung muss insoweit nicht stattfinden. Ein Verzicht auf den Erörterungstermin war nur unter den engen Voraussetzungen von Satz 6 i. V. m. § 67 Abs. 2 Nr. 1 und 4 zulässig. Die Regelung kann jedoch zu vermeidbaren Verfahrensverzögerungen insbesondere in solchen Fällen führen, in denen der Erörterungstermin erkennbar seine Befriedungsfunktion nicht erfüllen kann. Die Anhörungsbehörde erhält durch die Änderung in Satz 1 nun- mehr die Möglichkeit, nach pflichtgemäßem Ermessen über die Abhaltung eines Erörterungstermins zu entscheiden.
Die bisherige Verwaltungspraxis in Bereichen, in denen schon nach geltendem Recht ein Verzicht auf den Erörterungstermin möglich ist, ergab keine Anhaltspunkte für Fehlentwicklungen. Es ist die Aufgabe der Behörden, von der Entscheidungsmöglichkeit verantwortungsvoll Gebrauch zu machen. Der Erörterungstermin stellt ein auch für die Verwaltung wichtiges Verfahrensinstrument dar, um alle für den Entscheidungsprozess relevanten Informationen zu erhalten. Der Erörterungstermin ist aber keine allgemeine Informationsveranstaltung. Hierfür stehen andere Instrumente zur Verfügung. So kann insbesondere der Vorhabenträger selbst oder gemeinsam mit der Verwaltung durch geeignete Informationsveranstaltungen oder Veröffentlichungen in den Medien außerhalb des förmlichen Anhörungsverfahrens das Vorhaben erläutern und ggf. für Akzeptanz werben. Sinn der Erörterung dagegen ist die konzentrierte Befassung mit den rechtzeitig abgegebenen Einwendungen und Stellungnahmen. Gerade bei weniger rechtskundigen Einwendern ist dabei eine Verständigung zu erreichen, etwa wenn Missverständnisse ausgeräumt werden können.
Ein Verzicht kann z. B. in Betracht kommen, wenn keine Einwendungen oder Stellungnahmen der beteiligten Betroffenen und Vereinigungen vorliegen, oder wenn konkrete Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass Einwender den Erörterungstermin lediglich dazu nutzen wollen, das Verfahren zu blockieren, oder sie den Erörterungstermin mit dem Ziel stören wollen, eine ordnungsgemäße Durchführung unmöglich zu machen. Hält die Behörde einen Erörterungstermin ab, sind wegen ihrer verfahrensrechtlichen Gleichstellung nunmehr auch die zu beteiligenden Vereinigungen, die Stellungnahmen abgegeben haben, einzubeziehen. Im Falle des Verzichts auf den Erörterungstermin bleibt es der Anhörungsbehörde unbenommen, im Rahmen ihres Verfahrensermessens andere geeignete Formen der Anhörung zu wählen. So kann sie sich auf die Anhörung zu Teilaspekten des Plans oder auf die gesonderte Anhörung einzelner Einwender oder Gruppen beschränken.
Mit der Änderung in Satz 7 wird die Anhörungsbehörde verpflichtet, eine Erörterung innerhalb der – bislang lediglich als Soll-Vorgabe geltenden – Frist von drei Monaten nach Ablauf der Einwendungsfrist abzuschließen. Die Regelung dient der Verfahrensbeschleunigung, ist aber als Ordnungsvorschrift nicht mit Sanktionen verbunden. Die Überschreitung der Frist stellt somit keinen Verfahrensfehler dar.“
Foto: Chumwa / CC BY-SA 2.5
Bleiben Sie informiert über Lobbyismus.
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter.
Datenschutzhinweis: Wir verarbeiten Ihre Daten auf der Grundlage der EU-Datenschutz-Grundverordnung (Art. 6 Abs. 1). Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Zur Datenschutzerklärung.