Gerade sechs Monate nachdem Günter Verheugen als Industriekommissar aus der Europäischen Kommission ausgeschieden ist, hat er vier Beratungstätigkeiten in der Wirtschaft ergattert, unter anderem als Chefberater bei der Royal Bank of Scotland und im internationalen Beirat der Lobbyagentur Fleishman-Hillard. Jetzt kam heraus, dass er bereits im April eine eigene Lobbyberatung gegründet hat. Unterschreiben Sie unsere Online-Aktion, um diese Seitenwechsel zu unterbinden!
Verheugen schlägt aus seinen alten Kontakten und internen Kenntnissen als Kommissar kräftig Kapital. Auch fünf weitere Ex-Kommissare haben in den letzten Monaten Lobby- und Beraterposten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände ergriffen. Die Kommission hat alle Seitenwechsel großzügig genehmigt und bietet sich damit selbst zum Ausverkauf an.
Nun soll die EU-Kommission darüber entscheiden, ob Herr Verheugen seine Beratungsagentur aufrecht halten darf, die er ihr obendrein verschwiegen hatte. Wenn auch Sie der Meinung sind, dass Kommissarinnen und Kommissare nicht länger absahnen sollen, indem sie ihre internen Kenntnisse und Kontakte an das meistbietende Unternehmen verkaufen, unterschreiben Sie unseren Appell. Fordern Sie Kommissionspräsident Barroso auf, Demokratie, Moral und Verantwortung zu schützen und die Seitenwechsel von EU-Kommissaren zu stoppen.
Aktualisierung Januar 2011:
Die Aktion ist abgeschlossen – danke an alle, die mitgemacht haben! Es gibt noch keine endgültige Entscheidung über Verheugens Tätigkeit bei der European Experience Company. Aber seine Bürochefin darf die Firma weiter betreiben, mit kleinen Einschränkungen. Die Debatte über die Seitenwechsel hat durch unsere Aktion und Kampagnenarbeit an Dynamik gewonnen – aber die EU-Kommission ist nur zu kleinen Verbesserungen bereit. Sie hat inzwischen einen Vorschlag für einen neuen Verhaltenskodex für EU-Kommissare vorgelegt, der auf jeden Fall nachgebessert werden muss. Hier ist nun das Europaparlament gefragt. Weitere Details in unserer Analyse vom 20. Januar 2011.
Hintergrund:
Günther Verheugen ist einer von sechs Kommissarinnen und Kommissaren der letzten Kommission, die in Tätigkeiten in der freien Wirtschaft gewechselt sind, bei denen es zu Interessenkonflikten kommen kann (von 13 Kommissisaren insgesamt, die die Kommission im Februar 2010 verlassen haben).
Es gibt gute Gründe, wieso man aufgrund vieler dieser Fälle von Seitenwechslern besorgt sein sollte, wie der Wechsel von Charlie McCreevy zu Ryan Air, von Meglena Kuneva zu BNP Paribas und von Joe Borg zum Lobbyunternehmen FIPRA. Die Gründung einer eigenen Lobbyberatung durch Günter Verheugen allerdings stellt den wohl himmelschreiendsten Verstoß gegen die Verhaltensregeln für Kommissarinnen und Kommissare dar.
Günter Verheugen war einer der mächtigsten Kommissare der letzten zehn Jahre. In seiner Rolle als Kommissar für Unternehmen und Industrie (2004-2009) zog er heftige Kritik auf sich, als er die Interessen der Großindustrie anderen wie dem Umweltschutz oder sozialen Bedenken vor zog, so etwa bei der Entscheidung der EU zur Chemikalienrichtlinie REACH und bei den CO²-Emissionen von Autos. Umstritten war auch seine Angewohnheit, viele hochrangige Beratungsgremien einzuberufen und überwiegend mit Industrielobbyisten zu besetzen.
Seit er aus der Kommission ausgeschieden ist, hat Verheugen vier Tätigkeiten in der Wirtschaft übernommen. Dem Code of Conduct für Kommissare zufolge hätte er die Kommission informieren müssen, BEVOR er diese Stellen antrat. Verheugen hat aber „vergessen“, dies zu tun. Als die Kommission Verheugen im April 2010 bat, sie über seine beruflichen Tätigkeiten zu informieren, erwähnte er sein neues Beratungsunternehmen nicht mit einem Wort. Er gab stattdessen nur seine Anstellungen bei der Royal Bank of Scotland (RBS), der globalen Lobbyagentur Fleishmann-Hillard, dem türkischen Rohstoffbörsenverband TOBB sowie dem Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken an. Nach einer sehr oberflächlichen Bewertung bezüglich eines möglichen Interessenkonflikts gab ihm die Kommission im Juli 2010 grünes Licht. Die Kommission war der Meinung, dass Verheugen bei seinen neuen Tätigkeiten nicht in irgendwelche Lobbytätigkeiten involviert sei. Das sah die Royal Bank of Scotland offensichtlich anders: Dort freute man sich öffentlich sehr über Verheugens Reichtum an politischen Kontakten: “Seine Erfahrung in der europäischen Politik und seine nationalen wie auch internationalen Kontakte sind sehr wertvoll für die RBS.“
Ende August deckte die Wirtschaftswoche auf, dass Verheugen auch eine eigene Lobbyagentur mit dem Namen „European Experience Company“ ins Leben gerufen hatte, die eine breite Palette an EU-Lobbying-Dienstleistungen anbietet. Nach einer breiten Medienberichterstattung begann man sich in der Kommission die Frage zu stellen, inwieweit es angemessen ist, wenn ein Ex-Kommissar eine Lobbyagentur gründet. Verheugen und seine Geschäftspartnerin Petra Erler allerdings argumentieren, dass Verheugen für seine Geschäftsführertätigkeit nicht bezahlt werde. Über unternehmerische Tätigkeiten sage der Verhaltenskodex für Kommissare nichts. Und dass das Unternehmen keine Lobbyarbeit gegenüber europäischen Institutionen betreibe und damit in vollkommener Übereinstimmung mit den Anforderungen des Kodex sei. In den Augen von ALTER-EU handelt es sich klar um Lobbyberatung, wenn auf der Seite der European Experience Company „die richtige Strategie für Ihren Erfolg im Umgang mit europäischen Institutionen“ angeboten wird.
Dem Beschluss der Kommission wird ein Vorschlag ihres dreiköpfigen Ad-hoc Ethik-Komitees zugrunde liegen. Ihr Vorsitzender, Michel Petite, stand 2008 selbst wegen eines Seitenwechsels aus der Kommission in die Wirtschaft in der Kritik. Die schlussendliche Entscheidung wird aber von der gesamten Europäischen Kommission getroffen.
Wenn die Kommission Verheugen die Genehmigung erteilt, legitimiert sie, dass ehemalige Kommissare aus ihrem Insider-Wissen und ihren Kontakten, die sie während ihrer Zeit in öffentlichen Ämtern erworben haben, Profit schlagen. Solch eine Entscheidung würde dem Einfluss von großen Unternehmen und anderen gut ausgestatteten Interessen auf die Entscheidungsfindung in der EU noch weiter Tür und Tor öffnen. Werden Sie aktiv, um dies zu verhindern und sorgen Sie dafür, dass die Kommission Demokratie, Moral und Verantwortung schützt, indem sie die Drehtür anhält.
Transparenz-Aktivistinnen und -Aktivisten und Mitglieder des Europäischen Parlaments fordern seit langem strengere Regeln, um Interessenkonflikten vorzubeugen. 2009 hat eine Parlamentarische Studie als Ergebnis einen strengeren Verhaltenskodex für Kommissarinnen und Kommissare gefordert. Kommissions-Präsident Barroso versprach im September 2009 eine Überprüfung des Code of Conduct. Dieses Versprechen blieb unerfüllt und die fünf weiteren Drehtür-Fälle wurde ebenfalls gemäß der laxen Regelungen gehandhabt, die alle zu sehr oberflächlichen Überprüfungen führten.
Siehe auch die älteren Blogbeiträge zum Thema:
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