Lobbyismus in der EU

Blockieren und profitieren: Ein Exklusivgipfel für die Chemieindustrie

Heute findet auf dem BASF-Gelände in Antwerpen ein Chemiegipfel mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem belgischen Premierminister Alexander De Croo statt. Der Veranstaltungsort ist mehr als symbolträchtig, denn die Chemieindustrie hat es in den letzten Jahren dank privilegierter Lobby-Zugänge geschafft, die EU-Politik nach ihren Interessen zu formen.

von 20. Februar 2024
BASF-Werk in Schwarzheide
Goku4711/wikimedia - CC-BY-SA 4.0
BASF-Werk in Schwarzheide, Deutschland
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BASF-Werk in Schwarzheide
BASF-Werk in Schwarzheide, Deutschland

Bei vielen mächtigen Industrien hat die EU in den vergangenen Jahren versucht, Regeln zum Schutz von Klima und Umwelt aufzustellen, teilweise mit Erfolg. Fast komplett davon ausgenommen ist allerdings die Chemieindustrie – sie hat sich mit aller Macht gegen Einschränkungen bei Produktion und Verkauf hochproblematischer Chemikalien und Pestizide gewehrt.

Umso größer ist die Empörung in der Zivilgesellschaft, dass ausgerechnet die Chemiebranche nun einen exklusiven Gipfel mit der Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen, dem belgischen Premierminister Alexander De Croo und hochrangigen Unternehmensvertreter:innen abhalten darf - organisiert von der derzeitigen Ratspräsidentschaft Belgien. Das ganze erinnert an die viel kritisierten Auto-Gipfel in Deutschland, bei denen der Bundesregierung Einseitigkeit und eine zu große Nähe zur Auto-Industrie vorgeworfen wurde.

Protestbrief an den belgischen Premierminister

Alexander De Croo
European Commission -
Hat einen Protestbrief der Zivilgesellschaft bekommen: Premierminister Alexander De Croo

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Dieser Gipfel symbolisiert auf besonders eindrückliche Weise die Problematik privilegierter und unausgewogener Zugänge von Konzernen zur Politik: Hier treffen sich hochrangige Politiker:innen mit Führungskräften aus der Chemiebranche, die kritische Öffentlichkeit muss dagegen draußen bleiben. Obendrein findet der Gipfel auch noch auf dem Gelände des größten Chemiekonzerns der Welt statt. Gemeinsam mit 72 anderen Organisationen haben wir dem belgischen Premierminister einen offenen Brief geschrieben. Proteste am Rande der Veranstaltung durch Nichtregierungsorganisationen sind angekündigt.

Beim Gipfel geht es um einen „Austausch über die Zukunft des Sektors“ und den Abschluss eines „EU Industrial Deal“, mit dem die „Wettbewerbsbedingungen innerhalb und außerhalb des Binnenmarkts“ verbessert werden sollen. Oder, wie es der deutsche Verband der Chemischen Industrie in einem Beitrag auf seiner Seite ausdrückt: „Für Belgien steht fest, dass der Green Deal auch eine Wachstumsagenda hat und nicht zu einer Deindustrialisierung in Europa führen darf“.

Die mächtigsten Politiker:innen der EU sprechen also mit Interessenvertreter:innen wahrscheinlich über das wichtigste umweltpolitische Projekt der EU – allerdings ohne Umweltorganisationen. Denn eingeladen ist nur die Industrie, von Zivilgesellschaft keine Spur. Solche Gipfel müssen vermieden werden, denn mächtige Akteure, die sowieso schon privilegierte Zugänge zur Politik genießen, können unwidersprochen Perspektiven auf politische Prozesse durchsetzen, die weit mehr Menschen als die Konzerne betrifft.

Wenn die Chemie-Lobby von einer angeblich drohenden Deindustrialisierung spricht, ist das exemplarisch für den Alarmismus der Chemiebranche in den letzten Jahren. Zu erwarten ist, dass sie von der Politik fordern wird, die Chemieindustrie nicht weiter mit Regulierung zu behelligen. Dabei hat sie sich schon in den vergangenen Jahren mit ihrer Blockade gegen bessere Schutzmaßnahmen vor giftigen Chemikalien auf ganzer Linie durchgesetzt. Hier die wichtigsten Beispiele:

Chemieindustrie verhinderte Verbot für schädlichste Chemikalien in Konsumgütern

Auf der Agenda des Green Deal, der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, stand ursprünglich auch der Plan, die schädlichsten Chemikalien in Konsumgütern bis 2022 zu verbieten. Dies sollte im Rahmen einer Reform der EU-Chemikalienverordnung REACH passieren, die reguliert, unter welchen Bedingungen Stoffe auf den europäischen Markt gebracht werden dürfen.

Doch die Reform wird in dieser Wahlperiode nicht mehr kommen. Die Chemieindustrie hat massiv dagegen lobbyiert und argumentiert, dass der Industrie angesichts von Krisen und gestiegenen Rohstoffpreisen keine „neuen Belastungen“ zuzumuten seien. Im Oktober 2022 warnte der damalige BASF-Chef Brudermüller gar, die von der EU vorgeschlagene Reform des Chemikalienrechts setze "ein großes Fragezeichen hinter die Zukunft der Chemikalien in Europa".

Es ist zwar richtig, dass die Chemiebranche sich massiv vom billigen Erdgas aus Russland abhängig gemacht und durch den russischen Angriff auf die Ukraine unter hohen Energiekosten zu leiden hatte. Dennoch ist ihr Narrativ extrem einseitig und kurzfristig gedacht: Ihm zufolge seien Vorschriften zum Schutz von Umwelt und Verbraucher:innen überbordende Bürokratie und unnötige Belastung für die Wirtschaft. Doch erstens dürfte die Ausrichtung am Schutz von Umwelt und Gesundheit durchaus eine sinnvolle Investition in die Zukunft sein. Und zweitens sollte der Ball nicht im Spielfeld der Konzerne liegen, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob diese Belastungen überflüssig sind.

So stellte die EU-Kommission in ihrer Folgenabschätzung für die REACH-Reform noch selbst fest, dass die Einsparungen im Gesundheitsbereich durch das Verbot von Chemikalien die Kosten für die Industrie um das 10-fache übersteigen würden. Und doch legte die Kommission auf Druck der Chemielobby am Ende keinen Entwurf mehr für die REACH-Reform vor. Besonders empfänglich für die Forderungen der Chemieindustrie zeigte sich die Europäische Volkspartei (EVP), allen voran die zu dieser Gruppe gehörige CDU/CSU. Dabei ist die Kommissionspräsidentin ebenfalls Mitglied der Partei und ihre Kommission hatte diese Regeln vorgeschlagen.

„Ewigkeits-Chemikalien“ – Industrie läuft Sturm gegen den Vorschlag der Umweltbehörden

Kommission und Rat hatten sich 2019 auf die Fahnen geschrieben, die Produktion und Nutzung der sogenannten „Ewigkeits-Chemikalien“ stark einzuschränken, es sei denn, ihr Einsatz ist absolut unerlässlich. Denn die Gruppe dieser Chemikalien ist besonders langlebig und reichert sich in Boden und Gewässern und über die Nahrung auch in Menschen und Tieren an. Die befürchteten Auswirkungen sind vielfältig: z.B. verminderte Wirkungen von Impfungen, verringerte Fruchtbarkeit, Schädigung von Leber und Schilddrüse und erhöhte Krebsgefahr.

Weil es schwierig ist herauszufinden, von welchen der Stoffe Gefahren ausgehen, hatten die Umweltbehörden aus fünf Ländern – darunter Deutschland – stellvertretend für eine Entscheidung des Rats der Umweltminister:innen aller Mitgliedstaaten ein recht umfassendes Verbot der sogenannten PFAS (Per- und polyfluorierte Chemikalien) beantragt. Die Industrie lief dagegen Sturm. Die Beratungen hierzu werden noch bis mindestens 2025 andauern, aber es zeichnet sich schon jetzt ab, dass das Verbot weit weniger umfassend sein wird, als ursprünglich von den Umweltbehörden empfohlen.

PFAS finden sich unter anderem auch in Batterien und Halbleitern und sind damit auch relevant für die Energiewende. Im August 2023 erklärten zahlreiche deutsche Industrieverbände, die EU-Klimaziele seien unter diesen Umständen gefährdet. Und kurze Zeit später, nach einem ebenfalls exklusiven Gipfel auf Einladung des Bundeskanzlers Olaf Scholz, sprach dieser sich gegen ein „pauschales, undifferenziertes Verbot ganzer Stoffklassen“ aus, ebenso wie der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck. Sie fielen damit der deutschen Umweltministerin Steffi Lemke in den Rücken, die sich hinter den Vorschlag der fünf EU-Mitgliedstaaten gestellt hatte.

Das ist schon eine Art Vorentscheidung, weil über die Frage am Ende ein Gremium der Mitgliedstaaten entscheiden wird, der so genannte REACH-Regelungsausschuss. Dabei hätte der Vorschlag lange Übergangsfristen und auch einige komplette Ausnahmen des Verbots vorgesehen.

Kommission verlängert Totalherbizid Glyphosat ohne Not direkt für zehn Jahre

Das Pestizid Glyphosat wurde von der EU-Kommission wieder genehmigt, obwohl die zuständige europäische Lebensmittelbehörde EFSA in ihrer Bewertung selbst auf die fehlenden Daten hingewiesen hat, welche Risiken dieser Wirkstoff für die Artenvielfalt birgt. Nachdem die Mitgliedstaaten kein eindeutiges Votum abgegeben haben, hat die EU-Kommission die Genehmigung für den Wirkstoff direkt im Anschluss gleich für 10 weitere Jahre gegeben. Dabei wäre angesichts fehlender Daten auch eine kürzere Genehmigung möglich gewesen.

Kommissionspräsidentin zieht Plan für Halbierung problematischer Pestizide zurück

Sandro Halank - CC-BY-SA 3.0
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat der Blockadehaltung der Chemielobby nachgegeben

Auch den Plan, den Gebrauch schädlicher Pestizide bis 2030 zu halbieren, hat Ursula von der Leyen nach massiven Protesten von Bauern und Industrie zurückgezogen. Das meiste, was in puncto Agrarreformen und Chemieregulierung im Green Deal stand, steht nun mindestens infrage, wenn es nicht schon geplatzt ist. Auch hier hat die eigene Partei der Kommissionspräsidentin eine tragende Rolle eingenommen.

Die Lobbypower der europäischen Chemieindustrie

Und trotz dieser Blockadehaltung erhält die Chemieindustrie nun diesen zweifelhaften Exklusiv-Gipfel von der belgischen Ratspräsidentschaft. Warum lässt sich die Politik von der Chemieindustrie in derart augenfälliger Weise vereinnahmen? Die Gründe dürften vielfältig sein: Erstens sitzen in Europa die größten Chemiekonzerne der Welt, die natürlich auch eine stattliche Wirtschaftsleistung bringen und massiv mit dem Abbau von Arbeitsplätzen drohen können, von denen allein die BASF in Europa fast 70.000 schafft. Natürlich will man des Weiteren die europäischen Champions im internationalen Wettbewerb unterstützen.

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Und dann ist da noch eine massive Lobbypower. Sieben zentrale Lobbyakteure der Branche – darunter die deutschen Giganten Bayer, BASF und Industrieverbände wie der VCI – haben laut EU-Lobbyregister im vergangenen Jahr zusammen 33,5 Millionen Euro für Lobbyarbeit bei den EU-Institutionen ausgegeben. Das zeigt unsere Partnerorganisation Corporate Europe Observatory (CEO) in einer Auswertung mithilfe unseres gemeinsamen Analyseportals Lobbyfacts.

Wie die Lobbyarbeit genau funktioniert, hat CEO im vergangenen Jahr anhand des weltgrößten Chemiekonzerns BASF in einer Studie gezeigt. Ein beeindruckendes Beispiel ist sicherlich die virtuelle Weinprobe, die das Unternehmen während Corona EU-Abgeordneten anbot. Den interessierten Abgeordneten wurde vorab ein Wein-Kit geschickt, der hauseigene Sommelier der BASF referierte, und im Anschluss „bestand die Möglichkeit“, über die Auswirkungen der EU-Agrarstrategie im Rahmen des Green Deal zu diskutieren – eine Strategie, die der BASF missfiel.

Gemeinwohl muss vor kurzfristigen Konzern-Interessen stehen

Der neuerliche Exklusiv-Gipfel in Antwerpen hat immerhin einen Vorteil: Er führt drastisch vor Augen, welch massiven Einfluss die Branche auf die Politik hat. Die Zivilgesellschaft kann und muss jetzt öffentlich skandalisieren, wie die EU-Kommission vor der geballten Lobbymacht der Chemieindustrie einknickt und ihre eigenen Vorschläge einen nach dem nächsten zurückzieht. Mit den Protesten gegen den Gipfel soll gezeigt werden, dass die Öffentlichkeit einem dermaßen einseitigen Netzwerken zum Nachteil der öffentlichen Gesundheit nicht tatenlos zusieht. Statt ihnen privilegierte Zugänge zu ermöglichen, müssen Politiker:innen Konzernen eine Absage erteilen, wenn sie mit Drohungen und Lobbytaktiken versuchen, das Gemeinwohl in Frage zu stellen. Gesundheit und Nachhaltigkeit müssen politischen Vorrang vor Konzern-Profiten genießen.

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