Bei den Treffen von EU-KommissarInnen mit Lobbyisten steht die Tür vor allem für die Wirtschaft weit offen. Letzte Woche haben wir dies bereits für ganze Abteilungen der EU-Kommission aufgezeigt. Diese Woche sehen wir uns die Treffen der EU-KommissarInnen in der Einzelkritik an. Auch hier gilt: Vor allem in Bereichen mit weitgehenden EU-Kompetenzen leiht man ganz überwiegend der Wirtschaft das Ohr. Aber es gibt auch ein paar positive Beispiele.
Ein Lob vorab
Um es gleich vorweg zu schicken: Eine derartige Auswertung wäre auf deutscher Ebene gar nicht möglich. Die EU-Kommission hat mit der Veröffentlichung der Lobbytreffen der EU-Kommissare, ihrer Kabinette und der einzelnen Generaldirektoren (vergleichbar mit den deutschen Staatssekretären) ein Maß an Transparenz geschaffen, das zwar ausbaufähig ist, aber durchaus als vorbildlich für Deutschland gelten kann. Positiv zu sehen ist auch, dass Juncker offenbar erkannt hat, dass die einseitigen Treffen seiner Vorgänger-Kommission unter Barroso ein Problem darstellten. In seinen Arbeitsanweisungen hat er seinen Kommissarinnen und Kommissaren bei Amtsantritt mit auf den Weg gegeben, sich um Ausgewogenheit bei den Lobbytreffen zu bemühen. Was ist daraus geworden?
Unsere Analyse
Verglichen haben wir (mithilfe der Webseite „integritywatch“) alle EU-Kommissarinnen- und Kommissare, die zwischen Dezember 2014 und April 2017 eine relevante Anzahl von mindestens 50 Lobbytreffen hatten. Von diesen 19 Politikern haben sich zwölf, also knapp zwei Drittel, zu mindestens 60 Prozent mit Konzernvertretern getroffen. Spitzenreiter sind die Kommissare Elzbieta Bieńkowska (Binnenmarkt/ 87 Prozent), Günther Oettinger (Personal & Haushalt, zuvor Digitales/ 83 Prozent) und Jyrki Katainen (Wachstum & Beschäftigung/ 80 Prozent). Schaut man sich das Verhältnis für alle Kommissare an, also auch die mit weniger Lobbytreffen, verbessert es sich etwas: Dann hat nur noch etwa die die Hälfte aller Kommissare 60 oder mehr Prozent ihrer Lobbytreffen mit der Wirtschaft. Weniger Treffen heißt also des Öfteren auch: Weniger Treffen mit der Wirtschaft.
Genauer angeschaut haben wir uns die acht Kommissare mit dem größten Anteil an Wirtschaftslobbyisten. Auffällig: Sie sitzen in Ressorts mit großer gesellschaftlicher Relevanz.
Die KommissarInnen in der Einzelkritik
Angeführt wird das Ranking von Elżbieta Bieńkowska. 86,9 Prozent ihrer Lobbytreffen finden mit Unternehmensvertretern statt. Als Kommissarin für Binnenmarkt und Industrie ist es natürlich kein Wunder, dass sie zahlreiche Kontakte mit der Wirtschaft hat. Ihr Ressort gehört zu denen, die symbolträchtig für die starke Fokussierung der europäischen politischen Agenda auf Wirtschaftsinteressen steht, zu ihren Aufgaben gehören unter anderem die „Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds und der Zugang zu Märkten.“ Sie hat aber auch klar Farbe bekannt, als sie zu Beginn diesen Jahres auf dem EU Industry Day vor den versammelten Industrievertretern erklärte, jeden Tag sollte „industry day“ sein.
Bieńkowskas „Lieblingslobbyisten“ (wir haben die Lobbyisten mit den meisten Treffen bei den jeweiligen Kommissaren gezählt) sind VW, der einflussreiche europäische Unternehmerverband BusinessEurope, und der umstrittene Fahrdienstvermittler Uber. Drei der fünf Treffen mit VW fanden zum Abgasskandal statt, einige davon wurden von Bieńkowska selbst initiiert. Die Treffen haben sie immerhin nicht davon abgehalten, im Zuge des Skandals zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten, weil die Bundesrepublik gegen VW und weitere Autounternehmen nicht vorgeht.
Zweiter im Ranking ist Kommissar Günther Oettinger. Absolut gesehen hat keiner derart viele Treffen mit Unternehmensvertretern – er hatte seit Dezember 2014 fünfmal so viele wie Kommissarin Bieńkowska. Überhaupt, mit 529 Lobbytreffen ist er der Kommissar, zu dem Lobbyisten mit Abstand die besten Zugänge haben.
Oettingers Lieblingslobbyisten waren große Telekommunikationsunternehmen: Vodafone Belgium, Deutsche Telekom und Telefónica. Das ist keine große Überraschung, da er bis Ende 2016 Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft war und diese Unternehmen großes Interesse an bei ihm liegenden Themen wie elektronischem Datenschutz oder Roaming haben. Zu 83,2 Prozent fanden Oettingers Lobbytreffen mit der Wirtschaft statt. Dabei hatte sein früheres Portfolio auch extrem relevante Auswirkungen auf das öffentliche Interesse, sei das nun beim Thema Datenschutz oder beim Thema Zugang zu Bildung. Interessant ist auch, dass Oettinger auch nach seinem Wechsel ins Haushaltsressort weiter Treffen zu Digitalthemen hatte, unter anderem mit dem europäischen Verband der Digitalwirtschaft, DigitalEurope. Jedes Jahr im April lädt Oettinger zum „Europaforum Lech“, einem exklusiven Wirtschaftsgipfel, in das mondäne Skiparadies Lech am Arlberg. Zu ihm sind ausschließlich hochrangige VertreterInnen aus Wirtschaft und Politik geladen (LobbyControl berichtete). Bemerkenswert ist auch, dass Oettinger vier Monate nach seinem Wechsel in das Haushaltsportfolio bereits dreimal soviele Lobbytreffen hatte wie seine Amtsvorgängerin Georgieva in den gesamten zwei Jahren .
Kommisar Jyrki Katainen für Beschäftigung, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit weist ein Phänomen auf, das wir bei den Lobbytreffen der Kommisisare häufig beobachten: Einer seiner „Lieblingslobbyisten“, der Energieversorger Fortum Oyi, ist aus Finnland – ebenso wie der Kommissar. (Wirtschafts-)Lobbyisten nutzen den Kommissar ihres Herkunftslandes oft als direkten Weg zur EU-Kommission, auch wenn er oder sie gar nicht das Ressort leitet, in dem sie tätig sind. Das ist durchaus eine Erfolgsstrategie. Dabei sollen Kommissare eigentlich unabhängig von nationalen Interessen handeln. Katainen hatte 197 Lobbytreffen, 79,6% Prozent davon fanden mit Unternehmensvertretern statt.
Kommissar Andrus Andrip ist zuständig für den digitalen Binnenmarkt und übergangsweise auch für den früheren Aufgabenbereich Oettingers, Digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Wie Oettinger hat auch er eine vergleichsweise hohe Zahl an Treffen (328). 78,4 Prozent dieser Treffen fanden mit VertreterInnen von Wirtschaftsinteresssen statt, womit er den vierten Platz in diesem „Ranking“ belegt.
Die Lobbyisten, mit denen er sich am meisten getroffen hat, gehören ins Who is Who der einflussreichsten europäischen Wirtschaftsverbände: der Arbeitgeberverband BusinessEurope (er führt auch das generelle Ranking der Lobbyverbände mit den meisten Treffen mit der EU-Kommission an); der European Roundtable of Industrialists, der sich aus CEOs großer Unternehmen zusammensetzt und eher für die langfristigen Strategien, nicht für das Alltags-Klein-Klein des Lobbyismus auftritt; und nicht zuletzt der europäische Verband der Digitalindustrie, DigitalEurope. Häufigster Gegenstand seiner Lobbytreffen war Daten-Roaming, ein stark umkämpftes Thema in jüngster Zeit.
77,4 Prozent 168 Lobbytreffen von Kommissar Maroš Šefčovič fanden mit Vertertern der Wirtschaft statt. Er ist zuständig für die Energie-Union. Die Airbus Group ist der Interessenvertreter mit den meisten Treffen.
Phil Hogan, Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, hat wie sein Kollege Katainen eine Lobby-Organisation aus seinem Heimatland als „Lieblings-Lobbyisten“: die Irish Farmers‘ Association. Von 104 Treffen fanden 75 Prozent mit Unternehmensvertretern statt, was ihn zum sechsten der Tabelle macht.
Kommissarin für Transportpolitik Violeta Bulc hatte insgesamt 209 Lobbytreffen, 69 Prozent davon mit Wirtschaftsvertretern, was sie auf Rang 7 bringt. Die Lobbyisten mit den meisten Treffen waren das World Economic Forum – die Stiftung, deren Hauptaufgabe die Organisation des gleichnamigen jährliche Gipfeltreffens der Weltwirtschaftselite in Davos ist; die Association of European Airlines; und die Airbus Group, die auch Šefčovič oft treffen.
Pierre Moscovici, Kommissar für Wirtschaft und finanzielle Angelegenheiten, Steuern und Zölle, hatte 93 Treffen. 68,8 Prozent davon fanden mit Wirtschaftsvertretern statt. Auch er meldet mit dem großen französischen Energieanbieter Electicité de France ein Unternehmen aus dem Heimatland als „Lieblingslobbyisten“.
Obwohl er die Kommission 2016 verließ, soll an dieser Stelle auch Ex-Kommissar Jonathan Hill erwähnt werden. Er hatte bis zur Beendigung seiner Tätigkeiten bereits 185 Lobbytreffen mit 87-prozentigem Anteil an Treffen mit der Wirtschaftslobby. Diese Prozentzahl ist die höchste aller KommissarInnen unter Juncker. Hill hob in seiner Rhetorik und den politischen Vorgaben die Deregulierung des Finanzsektors hervor, und das passt ins Gesamtbild: Anfang des Jahres veröffentlichte ALTER-EU eine Analyse, die zeigte, dass 92% der Lobbytreffen, die zwischen Januar und Juli 2016 mit Hills damaliger Generaldirektion stattfanden, nämlich finanzielle Stabilität und Kapitalmarktunion, mit Unternehmensvertretern stattfanden.
Balance bisher nicht mehr als eine leere Worthülse
Angesichts dieser Ergebnisse haben wir nachgefragt, welche Maßnahmen in den Generaldirektionen getroffen wurden, um Junckers Vorgabe, Ausgewogenheit in den Lobbytreffen anzustreben, umzusetzen. Die Antwort lautet: Keine einzige. Jedenfalls keine, die irgendwann einmal zu Papier gebracht wurde. Das muss Juncker zu denken geben. Die Balance bei der Anhörung verschiedener Interessen ist bisher in den meisten Generaldirektionen nicht mehr als eine leere Worthülse geblieben.
Auch positive Beispiele
Obwohl offenbar kein Kommissar und keine Generaldirektion eine Vorgabe eingeführt hat, um Junckers Anweisung zu Lobbytreffen umzusetzen, haben manche Kommissare signifikant niedrigere Anteile an Treffen mit Unternehmensvertretern. Unter ihnen ist Kommissarin Thyssen, die zuständig für Arbeitnehmer- und soziale Angelegenheiten, Kompetenzen und Arbeitsmobilität ist und lediglich 34 Prozent ihrer Treffen mit Wirtschaftslobbyisten abgehalten hat. Ihre Treffen mit Gewerkschaften machen 29 Prozent aus, höher als bei jedem anderen Kommissar. Wenn man diese mit dem Anteil an Treffen mit NGOs addiert, liegt die Zahl bei 54 Prozent. Es ist bemerkenswert, dass fast kein anderer Kommissar es schafft, zweistellige Prozentwerte für seine/ihre Treffen mit Gewerkschaften zu erreichen.
Kommissar Andriukaitis, zuständig für Gesundheit und Ernährung, ist der einzige Kommissar, der die Tobacco Control Convention der WHO richtig umsetzt. Sie verlangt, dass öffentliche Behörden ihren Kontakt mit der Tabak-Lobby auf ein Minimum reduzieren und Transparenz über die gehaltenen Treffen herstellen. Die europäische Bürgerbeauftragte hat Juncker wiederholt dafür kritisiert, dass er nicht sicherstellt, dass die gesamte Kommission die Konvention einhält. 48% von Andriukaitis Lobbytreffen fanden mit Wirtschaftsvertretern statt.
Auch Matthew Vella, Kommissar für Umwelt und Meeresangelegenheiten, hatte nur 45% Treffen mit Unternehmensvertretern und beinahe ebensoviele mit NGOs. Vera Jourova, Kommissarin für Justiz, Verbraucher und Gleichstellung hatte sogar mehr Treffen mit NGOs (ca 48 Prozent) als mit der Wirtschaft (ca. 42 Prozent). Diese Beispiele zeigen, dass Kommisssarinnen und Kommissare die Wahl haben, wie viele und welche Lobbyisten sie treffen. Es ist kaum vorstellbar, dass beim Kommissar für Gesundheit und Ernährung oder dem für Umwelt und Meeresangelegenheiten nicht mehr Unternehmensvertreter angeklopft haben als die, die sie getroffen haben.
Juncker muss jetzt Boden gutmachen
Natürlich sind Lobbytreffen nur ein Kriterium von vielen, wenn man analysieren will, wer Einfluss auf die EU-Kommission nimmt. Und es geht auch nicht darum, Treffen mit Unternehmen grundsätzlich zu verurteilen, oder eine genaue 50:50-Balance einzuhalten. Unsere Bilanz zeigt aber, dass die EU-Kommission den Unternehmen weiterhin überproportional viel Aufmerksamkeit schenkt und Junckers Anspruch der Ausgewogenheit beim Anhören von Interessen nicht ausreichend gerecht wird. Das muss sich dringend ändern. Wohin eine zu große Nähe zwischen Politik und Konzernen führt, sieht man bei den Handelsabkommen CETA und TTIP oder dem aktuellen Abgasskandal.
In der zweiten Halbzeit muss Juncker deshalb jetzt Boden gutmachen: Er und seine Kommissare müssen sich nun schnell zusammensetzen und überlegen, was sie aus den positiven Beispielen lernen können und wie Junckers Vorgabe in den jeweiligen Ressorts umgesetzt werden kann. Auch sollten die EU-Kommissare grundsätzlich zu allen Lobbyakteuren ausreichend Abstand halten. Eben diese fehlt uns aber gerade bei einigen Treffen mit der Wirtschaft – genannt seien hier nur Oettingers Wirtschaftsforum „Europaforum Lech“ oder der alljährliche „European Business Summit“. Auch muss sich die EU-Kommission wieder und wieder vergegenwärtigen, dass sie von Lobbyisten keine neutrale Expertise erwarten kann – und daraus Schlüsse für ihre Lobbytreffen oder auch die Besetzung von Expertengruppen ziehen
Hinweise zur Methodik
- Die Auswertung basiert auf Daten der von Transparency International betriebenen Webseite http://www.integritywatch.eu/ (letzter Zugriff am 18./19. April).
- Als Unternehmenslobbyisten zählen Vertreter von Anwaltskanzleien, Berater, Unternehmen, in-house Lobbyisten und Wirtschaftsverbände.
- Als Lobbytreffen wurden einzelne „Lobbykontakte“ gewertet. Bei Einzeltreffen mit mehreren Lobbyisten wurden diese entsprechend mehrfach gewertet und den einzelnen Akteuren zugeordnet.
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Zum Weiterlesen:
Spiegel-Artikel zu unserer Recherche
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