Klarheit im Lobbyskandal um Ex-EU-Gesundheitskommissar John Dalli gibt es immer noch nicht. Dalli will nun gegen die Tabakfirma Swedish Match klagen. Immerhin bringt der Skandal einige Missstände ans Licht: ein Seitenwechsler mit privilegiertem Zugang soll Ethikberater der EU-Kommission bleiben und die EU-Kommission beachtet die WHO-Empfehlungen zum Umgang mit der Tabaklobby nicht. Deshalb: weiter Druck machen !
Richtlinien zum Umgang mit der Tabaklobby nicht eingehalten
Unsere Partnerorganisation Corporate Europe Observatory zeigt in einer neuen Analyse, dass nicht nur Ex-Gesundheitskommissar Dalli die WHO-Richtlinien zum Umgang mit der Tabaklobby missachtet hat, sondern auch andere Teile der Kommission – vor allem Barrosos Kabinett und Abteilung. Wir wissen aus Anfragen über die Informationsfreiheitsrechte von fünf nicht veröffentlichten Treffen zwischen Barrosos Kabinett bzw. Generalsekretariat und der Tabaklobby. Solche unveröffentlichten Treffen zwischen Dalli und der Tabaklobby wurden jedoch teilweise von der Kommission gegenüber Journalist/-innen als Grund angegeben, warum Dalli zurücktreten musste. Die WHO-Regeln gelten allerdings für die gesamte Kommission, nicht nur für den Gesundheitskommissar – die EU hat sie in ihrer Gesamtheit unterzeichnet.
Auch weitere Richtlinien der WHO werden von der Kommission nicht eingehalten. So soll zum Beispiel vermieden werden, dass hohe Beamte aus dem Gesundheitsbereich durch die Drehtür in die Tabakindustrie wechseln. 2004 ist aber genau dies geschehen: Der aus dem Amt geschiedene Gesundheitskommissar Pavel Telicka eröffnete eine Lobbyberatung, die 2006 und 2007 British American Tobacco beraten hat. Nicht der einzige problematische Seitenwechsel, wie der Fall Michel Petite zeigt.
Ein Seitenwechsler und Tabaklobbyist als Ethikberater
Die EU-Kommission musste auf Nachfragen von Europaabgeordneten einräumen, dass Philipp Morris Gespräche mit dem Juristischen Dienst der EU-Kommission über die Tabakproduktrichtlinie führen konnte – obwohl der Juristische Dienst in der Regel keine Industriekontakte pflegt.
Der Zugang erfolgte über Michel Petite, bis 2008 selbst Generaldirektor des Juristischen Diensts. Damals wechselte er von seiner Beamtentätigkeit direkt zur Anwaltskanzlei Clifford Chance. Für diesen Seitenwechsel war er 2008 für den Worst EU Lobbying Award nominiert. Die neuen Informationen belegen unsere Kritik an diesen Seitenwechseln: durch das Anwerben Petites hat Clifford Chance einen bevorzugten Zugang zum Juristischen Dienst, den zahlende Kunden wie Philipp Morris nutzen können.
Und jetzt wird es irrsinnig: Die EU-Kommission hat Michel Petite 2009 in ihr dreiköpfiges Ethik-Kommittee berufen. Dieses Kommittee soll u.a. bei Seitenwechseln von EU-Kommissaren prüfen, ob Interessenkonflikte vorliegen. Mit Petite hat die Kommission den Bock zum Gärtner gemacht – und sie will diesen Irrsinn weiter führen. Erst letzte Woche wurde Petites Mandat im Ethik-Kommittee um drei Jahre verlängert, trotz der neuen Erkenntnisse über Petites eigene problematische Lobbyarbeit!
Gemeinsam müssen wir den Druck auf die EU-Kommission erhöhen
Die Kommission will offensichtlich nichts aus dem Skandal lernen. Deshalb wollen wir den Druck zur umfassenden Aufklärung des Falls und zur Verschärfung der Lobbyregulierung in Brüssel weiter erhöhen. Weil das Thema weiter für Aufregung sorgt und weitere Organisationen in anderen Ländern einsteigen wollen, verlängern wir unsere Online-Aktion in den Januar. Mit unseren europäischen Partnern wollen wir dann auch den Fall Michel Petite vorantreiben. Eigentlich kann es nur eine Lösung geben: die EU-Kommission muss Petite aus dem Ethik-Kommittee entlassen. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass der Lobby-Skandal im neuen Jahr weiter aufgeklärt wird und es endlich Konsequenzen gibt. Die EU-Kommission darf nicht darauf hoffen, dass die Kritik über die Ferien in Vergessenheit gerät.
Mit Ihrer Unterschrift können wir die EU-Kommission unter Druck setzen, dass sie endlich Fakten auf den Tisch legt und die Lobbyregeln verschärft. Machen Sie mit und unterschreiben Sie jetzt unseren Appell an Kommissionspräsident Barroso!
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Hintergrund:
Die Ereignisse in Kürze:
Am 16. Oktober 2012 trat Gesundheitskommissar Dalli überraschend zurück. Wie er wenige Tage später der Presse erklärte, war er zu diesem blitzartigen Rücktritt von Kommissionspräsident Barroso gedrängt worden. In den folgenden Tagen erfuhr die Öffentlichkeit die Hintergründe des „Rausschmisses”: Im Mai 2012 hatte der schwedische Tabakkonzern Swedish Match sich mit dem Vorwurf an die Kommission gewandt, dass ein maltesischer Lobbyist und Bekannter von Dalli angeblich „im Namen von Dalli” an den Konzern herangetreten sei – und Geld gefordert hatte. Im Gegenzug habe er in Aussicht gestellt, die derzeit laufende Verschärfung der Tabakrichtlinie im Sinne von Swedish Match beeinflussen zu können.
Zu den Produkten des schwedischen Unternehmens zählt ein rauchfreies Tabakprodukt namens Snus, das in Schweden vertrieben, aber nicht in andere EU-Länder exportiert werden darf. Swedish Match ist seit Langem bemüht, dieses Exportverbot zu durchbrechen.
Die ermittelnde Antibetrugsbehörde der EU OLAF konnte zwar keine direkte Beteiligung des EU-Kommissars nachweisen – Dalli soll aber von dem Angebot gewusst haben. Aus den zusammengetragenen Indizien lasse sich schlüssig folgern, so hieß es auf einer Pressekonferenz am 17.Oktober von EU-Kommission und OLAF, dass Dalli über die Avancen des mit ihm bekannten maltesischen Unternehmers im Bilde war.
Wie diese Indizien aussehen, weiß allerdings nicht einmal der entlassene Kommissar. Die genauen Inhalte des Berichts und damit die genauen Vorwürfe gegen Dalli sind bis heute nicht öffentlich. Auch Dalli hat nie den gesamten Bericht gesehen – ihm wurde vor seiner Entlassung lediglich die Zusammenfassung des Berichts verlesen. Dalli bestreitet die Vorwürfe und behauptet, es habe sich um eine Intrige der Tabaklobby gehandelt.
Bestechungsskandal oder Intrige der Tabaklobby?
Dalli bereitete eine Erneuerung der Tabakproduktrichtlinie vor, die für die Tabakindustrie unangenehme Folgen gehabt hätte: Vereinheitlichung der Verpackungen mit großen, abschreckenden Bildern, Werbeverbote an Verkaufspunkten – Dalli galt vielen Gesundheitsaktivisten als Verbündeter im Kampf gegen die traditionell einflussreiche Tabaklobby. Nun ist die Richtlinie zunächst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben. Ein Grund zum Jubeln für die Tabakindustrie. Hinzu kommen Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten, die Dallis Version der Geschichte an Glaubwürdigkeit gewinnen lassen.
Glaubwürdigkeit Barrosos steht durch zahlreiche Ungereimtheiten auf dem Spiel
So hatte Swedish Match laut eigenen Aussagen zwar bereits im Februar das Bestechungsangebot des maltesischen Lobbyisten Silvio Zammit ausgeschlagen und der schwedischen Regierung gemeldet. Zugleich war aber die Lobbyorganisation European Smokeless Tobacco Council (ESTOC), die sich für den europaweiten Verkauf von Kautabak einsetzt, noch in E-Mail-Kontakt mit Zammit. In einer E-Mail vom 16. März fragte ESTOC, ob Zammit gegen Geld ein Treffen mit Dalli arrangieren könnte. Zwischen ESTOC und Swedish Match gibt es aber eine enge personelle Verbindung: So ist der Vorsitzende der Lobbyorganisation, der Schwede Patrik Hildingsson, zugleich Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von Swedish Match.
Damit stellt sich die Frage: Wenn Swedish Match im Februar den Kontakt abbrach, warum hatte ESTOC dann weiterhin Kontakt mit Zammit? Und warum beschwerte sich Swedish Match erst im Mai 2012 bei der Kommission?
Auffallend ist auch, dass die Generalsekretärin der EU-Kommission und enge Mitarbeiterin von Barroso, Catherine Day, sich offenbar mehrfach persönlich darum kümmerte, die weitgehenden Vorschläge von Dalli auszubremsen. So habe sie laut Spiegel beispielsweise am 25. Juli einen zweiseitigen Brief an die Chefin von Dallis Gesundheitsdirektion Sanco geschickt, „dessen Absender auch die Tabaklobby hätte sein können” (so der Spiegel). Sie kritisierte „den allgemeinen Bann von rauchlosen Tabakprodukten“, stellte „die Behandlung von nikotinhaltigen Produkten“ in Frage und erhob Bedenken gegen „die vorgesehenen Bestimmungen beim Zigarettenverkauf“.
Zumindest nachdenklich macht auch der Umstand, dass die Antibetrugsbehörde OLAF von der Zigarettenindustrie mit Geld und Informationen im Kampf gegen Zigarettenschmuggel und Zigarettenfälscher unterstützt wird. Der Spiegel folgert: „In der undurchsichtigen Affäre geht es längst um mehr als um den rätselhaften Rücktritt eines maltesischen Gesundheitspolitikers. Es geht um die Glaubwürdigkeit der gesamten EU-Kommission.”
Auch das europäische Parlament fühlt sich unzureichend informiert und hat inzwischen 154 Fragen zu dem Fall an Kommissionspräsident Barroso geschickt. Der Druck auf Barroso steigt. Helfen Sie uns, dafür zu sorgen, dass die EU-Kommission die genauen Ereignisse nicht unter den Teppich kehren kann.
Unterschreiben Sie jetzt unsere Online-Aktion!
Forderungen zur Lobbyregulierung:
Natürlich hat jeder Erpressungsskandal auch individuelle Ursachen. Dennoch hat LobbyControl gemeinsam mit seinem europäischen Transparenz-Netzwerk ALTER-EU zahlreiche Schwächen der europäischen Lobbyregulierung ausgemacht. Unsere Forderungen würden die Möglichkeiten derartiger Bestechungssversuche vermindern und die Aufklärung deutlich erleichtern. ALTER-EU hat sie am 5. November bereits in einem Brief an Barroso formuliert und eingefordert. Der Brief ist aber bisher unbeantwortet geblieben ist.
Unsere Forderungen im Einzelnen:
- Der Skandal zeigt, dass ein Lobbyregister nicht zur Aufklärung beitragen kann, wenn zentrale Akteure ihm einfach fernbleiben können. So sind die in der Affäre relevanten Akteure Silvio Zammit und Gayle Kimberley nicht im Register eingetragen. Die erste Forderung lautet daher, die Registrierung endlich für alle Lobbyisten verpflichtend zu machen.
- Zahlreiche registrierte wie unregistrierte Lobbyisten haben privilegierte Zugänge zu den Kommissarinnen und Kommissaren und damit die Möglichkeit, europäische Gesetzgebung so nachhaltig wie unauffällig zu beeinflussen. Wir fordern daher, dass die Mitglieder der EU-Kommission nach britischem Vorbild ihre Treffen mit Lobbyisten online veröffentlichen müssen.
- Es bedarf eines strengeren und klareren Verhaltenskodexes für EU-Kommissare. Interessenkonflikte sollten klar definiert und das Problem der privilegierten Zugänge zu den Kommissarinnen und Kommissaren angegangen werden.
- Auch der bestehende Verhaltenskodex für Lobbyisten beim gemeinsamen Lobbyregister von Kommission und Parlament sollte durch einen strengeren und verpflichtenden Kodex ersetzt werden. Dieser sollte unter anderem regeln, dass ehemalige Kommissarinnen und Kommissare sowie hohe Beamte erst nach einer Karenzzeit von drei Jahren angeheuert werden dürfen. Auch das spezielle Anheuern von Personen aus dem privaten Umfeld eines Kommissars als Lobbyisten, wie es in diesem Fall wohl geschehen ist, sollte nicht erlaubt sein
Helfen Sie uns, Konsequenzen aus dem aktuellen Skandal durchzusetzen. Unterschreiben Sie jetzt unseren Appell an Kommissionspräsident Barroso!
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