Die Entwicklungen seit dem Skandal lesen sich wie eine Anleitung, wie man trotz schwersten Korruptionsverdachts seinen Kopf aus der Schlinge zieht. Auch die politischen Antworten auf den Skandal fallen sehr bescheiden aus.
Ausgerechnet am Welt-Anti-Korruptions-Tag, dem 9. Dezember, jährt sich der Korruptionsskandal um die Ex-EU-Parlamentspräsidentin Eva Kaili zum ersten Mal. Das passt zu den eigentlich nur zynisch zu nennenden Entwicklungen bei der Aufklärung des Skandals: Denn eine raffinierte Verteidigung der Beschuldigten und ein Ermittlungsrichter mit fragwürdigen Verstrickungen könnten dafür sorgen, dass die Korruptionsermittlungen in einen Justizskandal umgedreht werden. Die Beschuldigten streiten alles ab und stilisieren sich als Opfer. Die Abgeordneten Eva Kaili, Marc Tarabella und Antonio Cozzolino sind vorerst wieder auf freiem Fuß und zwei von ihnen sind ins Europäische Parlament zurückgekehrt.
Der Skandal: neue Details auf dem Tisch
Was war passiert: Am 9. Dezember verhaftete die belgische Polizei die damalige Parlaments-Vizepräsidentin Eva Kaili, ihren Vater und ihren Partner und Mitarbeiter Francesco Giorgi in Brüssel, wenige Tage später den ehemaligen Abgeordneten Pier Antonio Panzeri und im Februar 2023 zwei weitere Abgeordnete: den Belgier Marc Tarabella und den Italiener Andrea Cozzolino.
Die Vorwürfe: Korruption, Geldwäsche und die Bildung von kriminellen Organisationen. Insgesamt wurden 1,5 Millionen Euro bei ihnen gefunden, allein bei Kailis Vater 750.000 Euro in bar in einem Koffer, in der Wohnung von Kaili und Giorgi nochmal 150.000 Euro und 600.000 Euro zu Hause bei Panzeri. Auch die Abgeordnete und bis Januar 2023 dem Menschenrechtsausschuss Vorsitzende Maria Arena ist verdächtigt, wenn die Fakten derzeit offenbar auch nicht zu einer Aufhebung der Immunität reichen.
Jetzt, ein Jahr später, lässt sich durch Ermittlungen und Panzeris Bereitschaft zur Aussage gegen Straferleichterungen ein Puzzle zusammentragen. Alle Beschuldigten arbeiteten offenbar in einem Netzwerk, das gegen Geld die EU-Politik zugunsten der Regierungen von Katar, Marokko und Mauretanien beeinflusste.
Drahtzieher war der ehemalige EU-Abgeordnete und Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des EU-Parlaments Pier Antonio Panzeri. Er hatte nach dem Ausscheiden aus dem Parlament die Organisation „Fight Impunity“ gegründet, die die Abgeordneten anwies, wie sie Einfluss nehmen sollten, und das Geld verteilte. Die ausgerechnet als Menschenrechtsorganisation getarnte Korruptionsmaschinerie trug sich nicht ins Brüsseler Lobbyregister ein und kooperierte doch aufs Engste mit Abgeordneten.
Francesco Giorgi, Kailis Partner, arbeitete zum einen für Panzeris Organisation, zum anderen für den beschuldigten Abgeordneten Cozzolino.
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Wie man aus massiven Bestechungsvorwürfen einen Justizskandal macht
Obwohl Panzeri mit der Justiz kooperiert und Giorgi sich selbst belastet, verläuft die strafrechtliche Aufklärung des Falles alles andere als gut. Das liegt an einer geschickten Verteidigungsstrategie der Beschuldigten, widersprüchlichen Aussagen und einem Ermittlungsrichter mit Interessenskonflikten.
Eva Kaili, das Gesicht des Skandals, hat von Anfang an alles abgestritten. Sie lässt verbreiten, dass der belgische Geheimdienst sie aus anderen Gründen zum Schweigen bringen will und tut alles, um den Skandal in einen Justizskandal umzudrehen – teilweise auch mit Erfolg. Der Justiz wirft ihre Verteidigung vor, dass die Aufhebung der Immunität nicht rechtens war, wie auch die Verwendung von geleakten Gesprächsmitschnitten von Panzeri. Nun muss sich das Gericht zunächst mit eigenen Verfahrensfehlern beschäftigen.
Dabei sind die Vorwürfe gegen Kaili in ihrer Summe eigentlich erdrückend. Kaili ist unter anderem nach Katar auf Kosten des Gastgebers gereist, hat sich in auffälliger Weise im Parlament positiv zu den Arbeitsrechten in Katar geäußert. Sie hat an der Abstimmung im Ausschuss zur Visa-Erleichterung teilgenommen, obwohl sie gar nicht Mitglied im Ausschuss war. Und sie lud die damalige Vize-Parlamentspräsidentin Metsola und ihre Familie sowie ihren Kabinettschef zur Fußball-WM nach Katar ein. Nicht zu vergessen das viele Bargeld, das in ihrer gemeinsamen Wohnung mit Giorgi und bei ihrem Vater gefunden wurde. Es wäre ein schwerer Schaden für die Demokratie, wenn der Skandal nicht aufgeklärt würde.
Untersuchungsrichter muss wegen eines Interessenkonflikts gehen
Im Moment ist das durchaus möglich: Denn die Verteidigung des beklagten Abgeordneten Marc Tarabella hat tatsächlich einen ziemlich pikanten Interessenkonflikt beim leitenden Untersuchungsrichter entdeckt: Sein Sohn hat ein gemeinsames Unternehmen für Cannabis-Produkte mit dem Sohn der verdächtigen Abgeordneten Maria Arena. Auch gegen sie sind die Anschuldigungen stark, sie wurde aber bisher nicht angeklagt. Der Untersuchungsrichter Michel Claise, der auch beim Anti-Korruptionsgremium GRECO aktiv ist, musste im Sommer wegen Befangenheit zurücktreten. Der Prozess wird wohl erst im nächsten Frühjahr wieder aufgenommen. Tatsächlich ist es seltsam, dass Marie Arena bisher so wenig belangt wurde, obwohl sie geleakten Polizeidokumenten zufolge von Beginn an im Fokus der Ermittlungen stand und es einige Verdachtsmomente gegen sie gibt. Im August wurden in der Wohnung ihres Sohnes, die direkt an ihre eigene grenzt, 280.000 Euro in bar von Katargate-Ermittler:innen sichergestellt.
Neue Regeln des Parlaments – ein wichtiger Schritt, aber unzureichend
Die Details der Ermittlungen führen überdeutlich vor, dass es im EU-Parlament an notwendigen Regeln und ihrer Durchsetzung mangelte. So konnte dreiste Korruption mitten unter den Augen der Abgeordneten passieren. Es herrscht(e) offenbar eine Kultur der Straflosigkeit. Das Parlament hat in den vergangenen Monaten mit neuen Regeln reagiert, aber das reicht nicht. Es ist zwar gut, dass z.B. Mitarbeiter:innen jetzt nicht mehr zugleich in Lobbyorganisationen arbeiten dürfen, oder dass es erstmals eine Karenzzeit für Abgeordnete gibt. Aber die Chance, umfassend zu reagieren und das Parlament „skandalfester“ zu machen, wurde verpasst. Gerade Abgeordnete der CDU haben darum gerungen, nur die ganz unvermeidbaren Schlussfolgerungen aus dem Skandal in Regeln umzusetzen.
Nach wie vor ist die Durchsetzung und Kontrolle der Regeln das Kernproblem. Am Ende entscheidet das Büro der Parlamentspräsidentin über Sanktionen, und dieses hat noch nie eine Sanktion für einen Verstoß gegen die Regeln bei Interessenkonflikten verhängt. Der beratende Ausschuss des Parlaments, der sich um Interessenkonflikte kümmern soll, sollte eigentlich im Zuge der Reformen nach dem Skandal um unabhängige Expert:innen erweitert werden. Das hat die europäische konservative Partei – in der die CDU/CSU Mitglied ist – aber verhindert. Sollten die im Gremium versammelten Abgeordneten wirklich mal zu dem Schluss kommen, ihre Kolleg:innen zu sanktionieren, kann die Parlamentspräsidentin diese Empfehlung in der Schublade verschwinden lassen. Die Kultur der Straflosigkeit lebt fort.
EU-Kommission sieht bei sich selbst keinen Änderungsbedarf
Das vom Parlament vorgeschlagene, eigentlich sinnvolle Ethik-Gremium für Parlament und Kommission wurde von der EU-Kommission völlig aufgeweicht und wird keinerlei Einfluss auf konkrete Regelverstöße haben. Die EU-Kommission tut so, als sei das nur ein Problem des Parlaments. Dabei ist ihr eigenes Ethik-Komitee auch nicht viel besser. Dem Ex-EU-Kommissar Dimitiris Avramopoulos erlaubte es, als Ehrenmitglied für „Fight Impunity“ Reden zu halten und 60.000 Euro einzunehmen, obwohl die Organisation nicht mal ins Lobbyregister eingetragen und daher wenig über sie bekannt war. Man verließ sich auf die Zusage, dass die Organisation sich bald eintragen werde – was nie passiert ist.
Während die EU-Kommission bei sich selbst keinen Regelungsbedarf sieht, will sie bei den Mitgliedstaaten durchaus Reaktionen durchsetzen. Grundsätzlich ist es richtig, dass auch die Mitgliedstaaten ihre Regeln gegen Korruption und problematische Lobbyarbeit verschärfen müssen. Die EU-Kommission setzt aber am falschen Ende an: Die Mitgliedstaaten sollen Register für Interessenvertretung einführen, die aus dem Ausland finanziert wird. Viele NGOs sehen hier eine Gefahr für eine autoritäre Verwendung, wie Viktor Orbán und Wladimir Putin es bereits vorführen. Viel sinnvoller wäre es, alle Mitgliedstaaten zu einem Lobbyregister für alle Akteure, ausländisch wie inländisch, zu verpflichten.
Was zu tun ist:
Es ist nicht das erste Mal und wird auch nicht das letzte Mal sein, dass andere Staaten versuchen, durch strategische Korruption ihre Interessen durchzusetzen. Das ist eine Gefährdung der Demokratie, vor der sich die EU-Institutionen und ihre Mitgliedstaaten schützen müssen – ebenso wie vor problematischem Lobbyismus. Einerseits muss Korruption mit einer Verschärfung von Strafrecht und einer besseren Ausstattung von europäischen Ermittlungsbehörden effektiver bekämpft werden. Vielen Staatsanwaltschaften in den Mitgliedsstaaten fehlen die Ressourcen und das Wissen, um komplexe Korruptionsfälle wirklich aufzuarbeiten. Ein ambitioniertes und wichtiges Projekt ist die geplante Anti-Korruptionsrichtlinie der EU, mit dem das Strafrecht zwischen den Mitgliedstaaten angeglichen werden soll. Aber auch Lobbyregulierung kann Korruption erschweren und als Frühwarnsystem gelten. Hier sind vor allem diese Regeln wichtig:
- Das EU-Transparenzregister muss endlich verpflichtend sein. Verstöße gegen die Eintragungspflicht müssen mit wirksamen Sanktionen geahndet werden.
- Es braucht eine unabhängige Lobby-Behörde, die für die Kontrolle und Durchsetzung der Lobby-Regeln in den EU-Institutionen sorgt. Dafür braucht diese Behörde Ermittlungs- und Sanktionierungsbefugnisse sowie ausreichende Ressourcen.
- Ehemalige Politiker:innen spielen bei strategischer Korruption oft eine wichtige Rolle. Lange Karenzzeiten (>3 Jahre) für Ex-Abgeordnete, Ex-Kommissar:innen und politische EU-Beamt:innen könnten dieses Einfallstor schließen.
- Bisher gibt es nur in wenigen EU Staaten effektive Lobbyregulierung, wie z.B. ein Lobbyregister. Die EU sollte Mindeststandards für Lobbyregeln in der EU setzen, denn die Regeln der EU sind immer nur so stark, wie die jedes seiner Mitglieder.
Was die Beschuldigten für Katar, Marokko und Mauretanien taten
Erst in dieser Woche wurden vom Magazin Politico Dokumente aus den Ermittlungen geleakt, darunter eine Tabelle, in der Giorgi seinen Auftraggebern anzeigte, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um ihre Aufträge zu erfüllen. Lange hatte auch das Europäische Parlament gerätselt, welche Aktivitäten denn im Auftrag von Qatar, Marokko und Mauretanien tatsächlich ausgeführt worden waren. Die Liste enthält unter anderem folgende Tätigkeiten:
- Kritische Beschlüsse des Parlaments zu verhindern, die Katar wegen seiner Behandlung von Arbeitsmigrant:innen und Journalist:innen verurteilen würden. Giorgi listet auf, dass er zwischen Juni 2021 und November 2022 sechs parlamentarische Entschließungen zur Verurteilung Katars "neutralisiert" hat. Das Parlament verabschiedete allerdings am 24. November 2022 doch noch eine Resolution, in der die Menschenrechtslage in Katar kritisiert wurde. Längerfristiges Ziel dieser „Imagepflege“ war ein Abkommen über visafreie Einreise für katarische Bürger:innen in die EU. Im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres wurde dies tatsächlich wenige Tage vor Bekanntwerden des Skandals beschlossen, die Abstimmung im Parlament liegt allerdings seitdem auf Eis.
- Giorgi rühmte sich, die Erzählungen im Parlament über die Ausbeutung von Arbeitsmigrant:innen für die Fußball-WM verändert zu haben. Im Februar 2020 z.B. bereiteten die Beschuldigten detaillierte Notizen für einen Auftritt des katarischen Außenministers vor dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Parlaments vor. Sie sorgten auch für die Anwesenheit bestimmter Abgeordneter "für gezielte Fragen".
- Mauretanien ging es dem Dokument zufolge in erster Linie darum, sein öffentliches Image zu verbessern. Die Gruppe versuchte offenbar, dafür zu sorgen, dass ein Anti-Sklaverei-Aktivist, der sich in der mauretanischen Regierung Feinde gemacht hatte, nicht den von der EU verliehenen renommierten Sacharow-Preis für Menschenrechte bekommen sollte.
Auch wenn man einrechnen muss, dass Giorgi mit dieser Liste auch vor seinen Auftraggebern prahlen wollte und offen zugab, dass er ihnen manchmal auch etwas vorgetäuscht hat: Dass diese und zahlreiche andere Handlungen jahrelang unter den Augen des Parlaments möglich waren, ist erschreckend und ein Offenbarungseid. Es führt überdeutlich vor Augen, dass sich Abgeordnete im EU-Parlament offen für Einflussnahme bestechen lassen konnten, ohne große Sorge, dass jemand ihnen dabei auf die Finger gucken könnte.