Die EU-Abgeordneten fordern derzeit strengere Verhaltensregeln für EU-KommissarInnen. Für sich selbst sehen sie aber keinen Bedarf. Dabei täte ein strengerer Verhaltenskodex auch für sie dringend not.
Abgeordnete fordern strengere Verhaltensregeln für EU-Kommissare…
Es ist ein Lehrstück in Sachen Doppelmoral: Als das EU-Parlament kürzlich über die fragwürdigen Seitenwechsel und Nebentätigkeiten von EU-Kommissaren diskutierte, waren sich (fast) alle einig: Die Kommission braucht einen strengeren Verhaltenskodex. Um den Druck zu erhöhen, beschlossen die Parlamentarier sogar, 20 Prozent der Übergangsgelder von KommissarInnen einzufrieren – bis die EU-Kommission ihren Verhaltenskodex verbessert hat.
… für sich selbst aber nicht
Wenn es um die Regeln für die EU-KommissarInnen geht, hat das Parlament eine starke Meinung. Das ist gut und richtig so. Was aber ist, wenn es um die eigene Moral geht? Da ist das Parlament leider nicht mehr so moralisch gefestigt. Über die Initiative des EU-Abgeordneten Sven Giegold zu „Transparenz, Rechenschaftspflicht und Integrität in den EU-Organen“ (LobbyControl berichtete) diskutierte es erst fast ein Jahr. Nun ließen die zuständigen Abgeordneten sie klammheimlich in der Schublade verschwinden. Mitte September vertagte die Mehrheit des Parlaments die Initiative auf unbestimmte Zeit – auf Antrag der konservativen Fraktion (Europäische Volkspartei EVP, deutsches Mitglied: CDU/CSU) und mit Unterstützung von Sozialdemokraten und Liberalen.
„Giegold-Bericht“ erstmal vom Tisch
Strengere Verhaltensregeln, welche die Glaubwürdigkeit und Transparenz des Parlamentes erhöhen würden, sind damit auf unbestimmte Zeit vom Tisch. Zum Beispiel eine Karenzzeit für Abgeordnete, das Verbot von Nebentätigkeiten bei Akteuren, die Lobbyarbeit bei den Europäischen Institutionen machen, oder ein legislativer Fußabdruck. Letzterer würde zum Beispiel dokumentieren, welche Lobbyakteure an Gesetzesvorlagen aus dem EU-Parlament beteiligt waren.
Seitenwechsel und Nebentätigkeiten – auch im Parlament gibt es zahlreiche Interessenkonflikte.
Dass solche Regeln dringend nötig wären, zeigen folgende Beispiele:
Guy Verhofstadt, Chef der Liberalen im EU-Parlament, verdient in seinem Zweitjob als Aufsichtsratsmitglied der belgischen Investmentgesellschaft Sofina fast 143.000 Euro im Jahr „dazu“. Das ist mehr als sein Verdienst als Abgeordneter. Sofina hat unter anderem Anteile an den Konzernen Engie und Danone. Beide sind als Lobbyisten im EU-Transparenzregister eingetragen.
Viviane Reding, Europaabgeordnete und Ex-Vizepräsidentin der EU-Kommission, verdient im Aufsichtsrat von Agfa-Geveart monatlich zwischen 1000 und 5000 Euro dazu, ebenso wie im Kuratorium der Bertelsmann-Stiftung (LobbyControl berichtete). Sie war Berichterstatterin für das Dienstleistungsabkommen TiSA im EU-Parlament. Bertelsmann ist als globales Dienstleistungsunternehmen möglicher Nutznießer von TTIP und TiSA und unterstützt Lobbygruppen, die sich für die Handelsabkommen einsetzen. Die Bertelsmann-Stiftung hat massiv für TTIP geworben. Zwar hat sich Viviane Reding bei TTIP- und TiSA mit Äußerungen bislang zurückgehalten. Dennoch besteht ein Interessenkonflikt, wenn sie in einem Strategiegremium einer konzernnahen Stiftung sitzt und gleichzeitig politisch im EU-Parlament für Vorhaben zuständig ist, die Bertelsmann nützen.
Rachida Dati, ehemalige französische Justizministerin, arbeitet in ihrem Nebenjob als Anwältin und verdient dabei über 10.000 Euro monatlich. Konkreter wird die Interessenerklärung leider nicht. Nicht einmal, was den Betrag betrifft. Immerhin, hier weitere Stufen einzuführen, ist geplant. Aber für wen sie konkret arbeitet, wer ihre Kunden sind – das muss sie nicht preisgeben. Aus französischen Angaben ist bekannt, dass sie allein zwischen 2010 und 2013 insgesamt 2,073 Millionen Euro dazuverdient hat. Französische Medien kolportierten, sie habe als Beraterin für das Energieunternehmen GdF Suez (heute Engie) gearbeitet – und sei für dieses auch im Parlament aktiv geworden
Auch diese Intransparenz ist ein Problem. Das Magazin „Politico“ hat recherchiert, dass 32 Abgeordnete sich in ihrer Interessenserklärung schlicht als „Anwalt“, „Berater“ oder „selbständig“ bezeichnen. Hinter solchen Berufsbezeichnungen stecken jede Menge potenzieller Interessenkonflikte.
Zum Beispiel arbeitet auch die deutsche Abgeordnete Angelika Niebler nebenbei als Anwältin. Sie gibt immerhin die Kanzlei an – Gibson, Dunn & Crutcher, eine Anwaltskanzlei, die sich nicht ins EU-Lobbyregister einträgt, obwohl sie nach LobbyControl-Erkenntnissen Lobbyarbeit in Brüssel leistet (LobbyControl berichtete). Sie verdient 1.000 – 5.000 Euro monatlich. Auf Anfrage gab sie an, dass sie keine EU-Kunden berate. Überprüfen lässt sich das natürlich nicht.
Verhaltenskodex: Zwölf Verstöße, keine Sanktion
Und Parlamentspräsident Martin Schulz möchte diese Tätigkeit nicht eingehender prüfen lassen – trotz unserer Aufforderung. Dazu muss man wissen: Kein einziger Fall von Nebentätigkeiten, den LobbyControl in den letzten Jahren an Parlamentspräsident Schulz zur Prüfung weitergeleitet hatte, wurde sanktioniert. Die meisten wurden wohl auch nicht überprüft. Die Wochenzeitung Die Zeit dokumentiert heute unter der Überschrift „Zwei Millionen Euro, nebenbei“, dass laut Parlamentsberichten Abgeordnete in den vergangenen drei Jahren insgesamt zwölfmal gegen den Verhaltenskodex verstoßen haben. Sanktioniert wurde kein einziger Regelbruch. Die Namen möchte die Parlamentsverwaltung nicht nennen.
Seitenwechsel: Regeln laxer als bei der EU-Kommission
Auch bei den Seitenwechseln sind die Regeln für Abgeordnete momentan laxer als für die Kommission: Die Parlamentarier können ohne jede Überprüfung in die Wirtschaft wechseln und dabei noch ihr Übergangsgeld voll kassieren. Bei den EU-KommissarInnen wird es gekürzt, wenn sie im neuen Job hohe Gehälter verdienen. Außerdem müssen die KommissarInnen ihre Tätigkeiten in den ersten anderthalb Jahren nach dem Ausscheiden prüfen lassen. Auch wenn die höchsten EU-Beamten strengere Regeln brauchen als Abgeordnete – brauchen letztere deshalb gar keine Regeln?
Merkwürdiges Rechtsgutachten
Fürs Erste ist das offensichtlich so.
Die Initiative von Sven Giegold wird erst wieder im Dezember oder Januar auf den Tischen der Parlamentarier liegen. Die derzeit laufende große Reform der Geschäftsordnung (zu der auch die Verhaltensregeln gehören), ist dann beschlossen. Sie wird Mitte Dezember abgestimmt.
Einige der Vorschläge aus dem Initiativbericht haben ihren Weg über Änderungsanträge von einzelnen Abgeordneten wieder in die Debatte über die Geschäftsordnung gefunden. Davon ist kaum etwas übriggeblieben. Vor allem die Konservativen und die Liberalen haben alle Änderungen bezüglich des Verhaltenskodex abgelehnt. Am Ende half ihnen sogar noch ein äußerst umstrittenes Rechtsgutachten aus dem Justiziariat: Es besagt, jedes Verbot von Aktivitäten würde die Freiheit der Abgeordneten unzulässig begrenzen und damit der Grundrechtscharta der EU zuwiderlaufen. Das Verbot von Lobbytätigkeiten für Abgeordnete ein Verstoß gegen die Grundrechte? Eine seltsame Rechtsauffassung.
Mehrheit stimmt immerhin für Verbot klarer Lobbytätigkeiten
Dennoch haben sich im Verfassungsausschuss die Sozialdemokraten ein Herz genommen und mit einer Mehrheit im Parlament gegen den Willen der EVP dafür gestimmt, dass wenigstens eindeutige, bezahlte Lobbytätigkeiten klar verboten werden sollen. Nebentätigkeiten wie die von Verhofstedt oder Reding wird dieses Verbot allerdings nicht betreffen. Ein Großteil der Interessenkonflikte wird fortbestehen, entweder, weil es sich nicht um klare Lobbytätigkeiten handelt, oder weil dies zumindest nicht bewiesen werden kann. Aber immerhin wäre es eine Klarstellung gegenüber der jetzigen Situation. Ob das allerdings im Plenum im Dezember auch wirklich durchgeht, ist noch offen. Es bräuchte die absolute Mehrheit von mindestens 376 der 751 Abgeordneten. Wir vermuten, dass im Parlament nun einiges versucht wird, um auch diesen Minimalkonsens abzuräumen. Wir halten Sie auf dem Laufenden.
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