Lobbyismus in der EU

„Tauziehen“ um Transparenz und Demokratie: Rückblick auf ein europäisches Jahr

Mehr als 30.000 Unterschriften für unsere Kampagne „Europa nicht den Konzernen überlassen“ – und zum krönenden Abschluss eine gemeinsame Aktion mit vielen UnterstützerInnen. Unser Fazit am Ende eines Jahres ganz im Zeichen der EU-Wahl.
von 6. Dezember 2019
Lode Saidane - LobbyControl - All rights reserved
Protestaktion in Brüssel © Lode Saidane/LobbyControl

Brüssel mag für vieles bekannt sein, gutes Wetter gehört nicht dazu. Normalerweise begrüßt die Stadt ihre Besucher*innen unter einer grauen Wolkendecke und mit wechselnden Abstufungen von Regen.

Anders vergangenen Mittwoch: Bei strahlendem Sonnenschein spielte sich zur Mittagszeit Erstaunliches vor dem Berlaymon-Gebäude, Sitz der Europäischen Kommission, ab. Die kritische Zivilgesellschaft lieferte sich dort ein „Tauziehen“ mit den Lobbyisten und Lobbyistinnen großer Konzerne und Wirtschaftsverbände. Der Gegenstand dieses Wettstreits mit ungleichen Voraussetzungen? Nichts weniger als die Zukunft Europas.

Konzernlobby gegen Zivilgesellschaft

Allerdings wurde hier nicht mit vollem Körpereinsatz „gerungen“, und die „Lobbyisten“ kamen nicht wirklich von Facebook, BusinessEurope oder VW. Tatsächlich handelte es sich um zahlreiche Unterstützer*innen von LobbyControl. Denn die Aktion war der krönende Abschluss unserer Europawahl-Kampagne „Europa nicht den Konzernen überlassen!“. Seit Jahren beobachten wir mit Sorge die gewaltige Schieflage in der europäischen Politik: Bürgerinnen und Bürgern ist es praktisch unmöglich, Einfluss auf Entscheidungen auszuüben. Auch NGOs können sich im Brüsseler Lobby-Dschungel nur schwer Gehör verschaffen. Anders stellt sich die Lage für die Vertreter von großen Konzernen oder Wirtschaftsverbänden aus: Diese verfügen vielfach über exzellente Verbindungen ins Herz der EU-Institutionen.

Lobbyreport-Premiere und Parteiencheck

Für uns war die EU-Wahl 2019 Anlass, dieses massive Ungleichgewicht zum Thema zu machen. Den Startschuss setzten wir mit der ersten Ausgabe unseres „EU-Lobbyreport“, der die Lage in wesentlichen Bereichen untersucht: Wie steht es um das EU-Lobbyregister? Welche Rolle spielen Konzerne und Industrie in den Expertengruppen der Kommission? Gibt es tatsächlich mehr zivilgesellschaftliche Beteiligung bei der Aushandlung von Freihandelsverträgen wie JEFTA und TTIP 2.0? Begleitet wurde unsere Aufklärungsarbeit von einer Online-Petition, die auf Verbesserungen drängt und die bis heute von über 31.000 Menschen unterzeichnet wurde.

Weiter ging es mit unserem lobbykritischen „Parteiencheck zur Europawahl“. Als Orientierungshilfe für Wählerinnen und Wähler zeigten wir im Überblick, wie sich die deutschen Parteien in ihren Wahlprogrammen zum Thema Lobbyismus positioniert hatten. Und weil es in der Politik nicht nur auf Programme ankommt, zeigten wir auch, wie die Parteien im Europaparlament tatsächlich abgestimmt hatten, wenn es darauf ankam. Tacheles verlangten wir auch von den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten: Würden sie sich für mehr Lobbykontrolle einsetzen? Und schweben ihnen über schöne Worte hinaus konkrete Maßnahmen vor?

Mehr Ethik im Europaparlament

Natürlich hatten wir auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Blick. Denn auch auf sie versucht eine kleine Armee von Lobbyistinnen und Lobbyisten Einfluss zu nehmen. Besonders bei umstrittenen Gesetzesentwürfen überziehen sie die Parlamentarier*innen mit Anfragen, Einladungen und „Expertise“. Das Parlament hat sich dagegen in den vergangenen Jahren immer wieder zur Wehr gesetzt und Regeln eingeführt, die Interessenkonflikte verhindern und Transparenz über Lobbyeinfluss verbessern sollen. Leider sind diese Regeln bei denen, die sie anwenden sollen, aber immer noch weithin unbekannt. Um ihre Durchsetzung zu unterstützen, haben wirgemeinsam mit ALTER-EU deshalb alle existierenden Regelungen übersichtlich in einem Ethik-Guide eigens für EP-Abgeordnete zusammengefasst.

Neue Kommission unter der Lupe

Mitte des Jahres dann die Überraschung: Die Mitgliedsstaaten setzten sich über das SpitzenkandidatInnen-Prinzip hinweg und einigten sich unabhängig vom Parlament auf Ursula von der Leyen als neue Kommissionschefin. Auch von ihr wollten wir natürlich sofort wissen: Werden Transparenz und mehr Demokratie ein Pfeiler ihrer Politik sein? Eine Antwort auf unseren offenen Brief ist sie trotz mehrerer Nachfragen leider bis heute schuldig geblieben.

Lode Saidane/LobbyControl - All rights reserved
Besonders ehrgeizig will von der Leyens Kommission sein, verkündet das Transparent am Berlaymont-Gebäude. In Sachen Bürgernähe und Konzernkontrolle gibt es viel zu tun!

Eng begleitet haben wir auch die Wahl der anderen neuen Kommissionsmitglieder: In einer siebenteiligen Artikelserie nahmen wir besonders problembehaftete Kandidatinnen und Kandidaten unter die Lupe. Drei von ihnen schafften es nicht in die Kommission: László Trócsányi (Ungarn), Rovana Plumb (Rumänien) und Sylvie Goulard (Frankreich) scheiterten wegen Korruptionsvorwürfen und Interessenkonflikten an der Ethik-Prüfung durch das Parlament. Alles in Butter also? Weit gefehlt: Denn mit dem Franzosen Thierry Breton ist nun erstmals ein Konzernchef in die Kommission eingezogen. Nicht nur zivilgesellschaftliche Akteure wie LobbyControl sind darüber empört, auch zahlreiche Abgeordnete halten den Seitenwechsel für skandalös und für unvereinbar mit demokratischen Grundsätzen. Wir werden dem ehemaligen CEO während seiner Amtszeit genau auf die Finger schauen.

Was bleibt?

Die vielschichtigen Transparenz- und Demokratieprobleme Europas konnten wir mit unserer Kampagne nicht lösen – aber wir haben erfolgreich dafür gesorgt, dass sie in der Öffentlichkeit mehr Beachtung bekommen.

Lode Saidane / LobbyControl -
Campaignerinnen Annette Sawatzki und Nina Katzemich © Lode Saidane

Danke an alle, die uns dabei unterstützt haben - mit ihrer Unterschrift, mit Spenden oder mit tatkräftiger Beteiligung wie am 04. Dezember in Brüssel.

Darüber hinaus haben wir deutlich gemacht, an welchen konkreten Stellschrauben gedreht werden muss, um die EU mehr in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen. Nun liegt es an den europäischen Abgeordneten und an der neuen Kommission, die Probleme schnell und effektiv anzugehen.

Und wer weiß, vielleicht wird eine Aktion wie unser Tauziehen in fünf Jahren nicht mehr notwendig sein. Zu wünschen wäre es Europa – und uns allen. Wir jedenfalls werden uns weiter dafür einsetzen.

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