In der EU gibt die Digitalindustrie mehr Geld für Lobbyarbeit aus als jede andere Branche. Das gilt insbesondere für große Techkonzerne wie Google, Amazon & Co. Bisher wenig bekannt ist, dass eine kleine Gruppe von Wirtschaftsberatungsfirmen unbemerkt im Auftrag und Interesse der Techkonzerne tätig ist. Sie überschwemmen Regulierungsbehörden regelrecht mit vermeintlich neutralen Studien, um so die Wettbewerbspolitik der EU zu beeinflussen und Google & Co weitere Unternehmenszusammenschlüsse (sogenannte Fusionen) und damit mehr Monopolmacht zu ermöglichen.
Auch in der EU-Gesetzgebung mischen sie sich mit Auftragsstudien ein, so etwa beim Digital Markets Act (DMA). Besorgniserregend sind zudem die ständigen Seitenwechsel zwischen der EU-Wettbewerbsbehörde (GD Wettbewerb) und ebendiesen Beratungsfirmen. In einem offenen Brief gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Europa, den USA und Kanada fordern wir die Wettbewerbsbehörde nun auf, diese Missstände offenzulegen und mehr Transparenz in der EU-Wettbewerbspolitik zu schaffen.
Hinter den Kulissen nehmen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Beratungsfirmen im Auftrag der Techbranche beträchtlichen Einfluss, insbesondere bei der Fusionskontrolle – also bei den Genehmigungsverfahren für Unternehmenszusammenschlüsse.
Die TOP 10 der Techbranche geben in der EU mehr für Lobbyarbeit aus, als jeweils die zehn Unternehmen mit den größten Lobbyausgaben aus anderen Branchen wie Pharma, fossile Brennstoffe, Finanzen oder Chemikalien. Ein Großteil dieser immensen Lobbymacht in Brüssel liegt in den Händen von Google, Amazon, Meta (früher Facebook), Apple und Microsoft – auch bekannt unter dem Kürzel „GAFAM“. Insgesamt lassen sich GAFAM-Unternehmen ihre Einflussnahme auf EU-Institutionen über 26,5 Mio. Euro kosten. Auch in den Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten betreiben sie Lobbyarbeit. Laut dem deutschen Transparenzregister belaufen sich allein in Berlin die Lobbyausgaben der GAFAM-Unternehmen auf 8,8 Mio. Euro.
Mit der stetig zunehmenden Marktmacht von Google & Co wächst auch deren politische Schlagkraft. Dadurch entsteht das Risiko des „too big to regulate“ – die Konzerne werden zu groß, als dass man sie noch in Schach halten könnte. Techkonzerne haben wiederholt ihre Macht und Monopolstellung dazu genutzt, systematisch Gesetze zu umgehen, Nutzer:innen und kleinen Unternehmen unfaire Bedingungen aufzuzwingen und durch Lobbyarbeit Gesetze so zu beeinflussen, dass ihre zweifelhaften Geschäftsmodelle nicht beeinträchtigt werden. Wettbewerbern gegenüber verfolgen Techkonzerne wie Meta die Strategie „abkupfern, übernehmen, abschalten“ ("copy-acquire-kill"), was die Marktkonzentration noch verstärkt. Die Regulierungsbehörden haben jedoch kaum interveniert, um derartige Fusionen zu verhindern. Von den 1.000 Zusammenschlüssen, an denen Big-Tech-Unternehmen in den letzten 20 Jahren beteiligt waren, sei kein einziger gestoppt worden, so der ehemalige Chefökonom der GD Wettbewerb.
Die Monopolmacht von Google, Amazon & Co
Big Tech ist schon fast zum Synonym für Monopolmacht geworden. Eine Handvoll Unternehmen hat große Teile des Internets übernommen, und das in so verschiedenen Märkten wie Online-Werbung, E-Commerce, soziale Netzwerke, Online-Apps, Navigation, Video, Online-Suche, E-Mail und Cloud-Dienste. Durch Fusionen und Übernahmen gelingt es den Techkonzernen, ihre Marktmacht zu steigern, Zugang zu verschiedensten Daten zu bekommen und möglichen Wettbewerbern den Zugang zum Markt zu erschweren. So hat Amazon seine Marktmacht dazu genutzt, eigene Produkte prominenter anzuzeigen, und hat von externen Anbietern Verkaufsdaten gesammelt, um beliebte Produkte nachzumachen. Ähnlich bei Google, dessen Marktanteil bei der Internetsuche bei rund 90 % liegt. Googles Algorithmus bestimmt, in welcher Reihenfolge Milliarden von Menschen Suchergebnisse angezeigt bekommen.
Die US-Nichtregierungsorganisation „American Economic Liberties Project“ hat in den letzten Jahren 616 Fusionen und Übernahmen seitens Amazon, Apple, Meta und Google dokumentiert. Seit 2001 hat allein Google 270 Unternehmen geschluckt – das sind 13 Fusionen und Übernahmen pro Jahr. In einem Bericht der US-amerikanischen Kartellbehörde FTC liegt die Zahl mit 627 dokumentierten Fällen zwischen 2010 und 2019 sogar noch höher.
Nach dem Digital Markets Act: Lobbyarbeit von Big Tech geht weiter
Mit dem kürzlich verabschiedeten „Digital Markets Act“ (DMA), dem Gesetz über digitale Märkte, hat die Marktmacht der Techkonzerne jedoch das Interesse von Öffentlichkeit und Aufsichtsbehörden geweckt. Einige Fragen, die letztlich für wirksame Regulierung entscheidend sind, bleiben jedoch unbeantwortet und sind weiterhin Gegenstand der Lobbyarbeit von Google & Co.
Dabei verlassen sich die Techmonopole aus dem Silicon Valley auf Wirtschaftsberatungsunternehmen, deren Arbeit der Öffentlichkeit weitgehend verborgen bleibt. Firmen wie Compass Lexecon, Charles River Associates (CRAI), Oxera und RBB Economics erstellen für ihre Kunden Analysen zu wirtschaftlichen Themen, die dann auch bei öffentlichen Diskussionsrunden, Gerichts- und Kartellverfahren sowie bei strategischen Entscheidungsfindungsprozessen eingesetzt werden. In der EU-Wettbewerbspolitik haben diese spezialisierten Beratungsunternehmen also ziemliches Gewicht. Sie vertreten ihre Klienten vor Gericht und erstellen Studien, die dann bei Kartellentscheidungen bei der EU-Wettbewerbsbehörde eingereicht werden. Darüber hinaus erarbeiten sie für ihre Kunden Studien, mit denen sie Einfluss auf Gesetzgebung nehmen, und organisieren in Brüssel Diskussionsrunden und andere Veranstaltungen im Bereich der Wettbewerbspolitik. Sie nehmen damit entscheidenden Einfluss auf Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik in Europa.
Intransparente Einflussnahme
Die Rolle der Wirtschaftsberatungsunternehmen bei der Beeinflussung von Politik muss dringend offengelegt werden. Im EU-Lobbyregister tauchen die Unternehmen nicht auf, auf unsere Anfragen haben sie nicht reagiert, und ihre im Kundenauftrag bei der Wettbewerbsbehörde eingereichten Studien sind nicht öffentlich einsehbar. Nicht einmal die Überschriften dieser Berichte werden bekanntgegeben. Hier muss ein Paradigmenwechsel stattfinden, sowohl hin zu mehr Transparenz in der Lobbyarbeit der Wirtschaftsberatungsunternehmen als auch in der EU-Wettbewerbspolitik ganz allgemein.
Zweifelhafte Rolle der Wirtschaftsberatungen
Techkonzerne beauftragen gerne spezialisierte Wirtschaftsberatungen, um Kartellbehörden bei Fusionen vorteilhafte wirtschaftliche Argumente und Studien vorzulegen. Hilfreich sind etwa Gutachten, die bescheinigen, dass der Verbraucherschutz nicht leidet oder dass ihr Geschäftsgebaren unbedenklich für den Wettbewerb ist. Mit anderen Worten: Mit Auftragsstudien schaffen Google & Co scheinbar Belege, warum es ihnen gestattet sein sollte, ihre Monopolstellung noch weiter auszubauen.
Als verantwortliche Kartellbehörde ist die Generaldirektion Wettbewerb dazu verpflichtet, bei der Prüfung von Fusionen alle eingereichten Unterlagen zu berücksichtigen. Die Beratungsunternehmen sind dabei nicht als neutrale Vermittler tätig, sondern vertreten sie für ihre Kunden handfeste Interessen. Neben der traditionellen Lobbyarbeit überfluten sie die Kartellbehörden mit wirtschaftlichen Studien, mischen in vielen Sachverständigengruppen der EU mit und profitieren von der Expertise früheren Bediensteter der Generaldirektion Wettbewerb oder der Kartellbehörden der EU-Mitgliedstaaten, wenn sie diese engagieren.
Wachsende Bedeutung von Wirtschaftsberatungen
Der Bereich Wettbewerbsökonomie wird von einigen wenigen Beratungsunternehmen dominiert: Compass Lexecon, CRAI, Oxera und RBB Economics. Deren Bedeutung ist in den letzten Jahren ständig gewachsen: Mit einem Gesamtumsatz von mindestens 34,6 Mio. Euro im Jahr 2021 (verglichen mit 27,9 Mio. Euro in 2018) und mit 59 auf EU-Politik spezialisierten Beschäftigten verfügen sie in der Brüssel-Blase über eine erhebliche Präsenz.
Doch trotz ihrer immer größeren Rolle bei der Verteidigung und Vertretung ihre Auftraggeber findet sich im EU-Transparenzregister keinerlei Information über diese Wirtschaftsberatungsunternehmen. Lediglich Compass Lexecon könnte als Tochterunternehmen von FTI Consulting mit erfasst sein. Gemessen an den Lobbyausgaben ist FTI Consulting die drittgrößte Lobbyagentur in der EU.
- Compass Lexecon ist ein Tochterunternehmen von FTI Consulting. Wie auf der Webseite zu lesen ist, hat Compass Lexecon schon für „84 % der aktuellen Fortune-100-Konzerne” gearbeitet. Seine Präsenz in Brüssel baut das Beratungsunternehmen immer weiter aus. Beschäftigte es 2018 noch 15,4 Personen (Vollzeitäquivalente, VZÄ), so hat es inzwischen eine Belegschaft von 27,2 VZÄ. Der Umsatz ist von 13 Mio. Euro (2018) auf 15,5 Mio. Euro (2021) gestiegen. Für Big Tech hat Compass Lexecon mehrere Fälle betreut, darunter Übernahmen (wie die von Fitbit durch Google, Red Hat durch IBM oder MGM durch Amazon), Gerichtsverfahren (wie Uber gegen EU-Mitgliedstaaten oder zu den irischen Beihilfen für Apple) sowie das Qualcomm-Dossier und die Kooperation zwischen Microsoft und Yahoo.
- Charles River Associates International (CRAI) ist eine Beratungsfirma aus den USA mit einem Gesamtumsatz von 535 Mio. Euro im Jahr 2021. CRAI befindet sich überwiegend im Besitz von Investmentfonds wie BlackRock, Vanguard Group, Dimensional Fund Advisors und FMR LLC. Zwischen 2018 und 2021 ist der Umsatz des Büros in Brüssel von 2,6 Mio. Euro auf 4,4 Mio. Euro gestiegen. Big-Tech-Unternehmen unterstützte die Firma gleich bei mehreren Verfahren, so z. B. Google und Apple (jeweils Kartellverfahren in Frankreich), und bei Übernahmen, bspw. denen von Github, LinkedIn und Nuance durch Microsoft.
- Oxera hat seinen Sitz im Vereinigten Königreich und dazu Vertretungen in Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Belgien. Die Firma hat einen Gesamtumsatz von 45,3 Mio. Euro und insgesamt 176 Beschäftigte. Davon erwirtschafteten die Niederlassungen außerhalb Großbritanniens 19,2 Mio. Euro. Genaue Zahlen für den Standort Brüssel sind leider nicht verfügbar. Für Techkonzerne beschäftigte Oxera sich unter anderem mit dem Verfahren gegen Google Shopping wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung sowie mit Microsoft.
- RBB Economics hat seinen Hauptsitz im Vereinigten Königreich und Niederlassungen in acht weiteren Ländern. Das Beratungsunternehmen hat einen Umsatz von 68 Mio. Euro, der zu 60 % in der EU erwirtschaftet wird. Das Büro in Brüssel ist von 10,6 Beschäftigten (VZÄ 2018) auf 14,7 VZÄ (2021) gewachsen. Im gleichen Zeitraum stieg der dortige Umsatz von 12,3 Mio. Euro auf 14,7 Mio. Euro. Zu den Big-Tech-Fällen zählten Oracle/Sun Microsystems, Google/DoubleClick, Google (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung), ADM/Intel und Amazon/The Book Depository.
„Spamming the regulator“ – Wie Kartellbehörden mit Studien überflutet werden
Als im Dezember 2020 die Europäische Kommission die Übernahme von Fitbit durch Google genehmigte, wurde diese Entscheidung von vielen Seiten scharf kritisiert. So mahnten vierzehn Wettbewerbsökonomen, darunter drei ehemalige Leiter von Kartellbehörden, dass die Kommission mit einer solchen Fusion die Durchsetzung von Regelungen in der Technologiebranche um „eine Generation zurückwerfen“ würde. Verbraucherverbände, Gesundheitsexperten und Datenschutzverbände wie der Europäische Datenschutzausschuss erhoben ernste Einwände dagegen, dem bereits allgegenwärtigen Internetriesen Google Zugriff auf die Gesundheits-, Schlaf- und Standortdaten von Millionen von Nutzer:innen zu gewähren.
Manche waren jedoch mit der Entscheidung der Kommission durchaus zufrieden. Das Wirtschaftsberatungsunternehmen Compass Lexecon erklärte stolz, Google während des Fusionskontrollverfahrens in wirtschaftlichen Fragen beraten zu haben. Im Jahr darauf wurde das Unternehmen vom Fachverlag „Global Competition Review“ für seine Rolle bei der erfolgreichen Fitbit-Übernahme durch Google mit dem Preis für das beste Fusionskontrollverfahren des Jahres ausgezeichnet. Eigenen Angaben zufolge habe Compass Lexecon die entscheidenden Argumente dafür geliefert, dass die Fitbit-Daten „nicht einzigartig und für Google nur von begrenztem Wert“ seien.
Fusionskontrollverfahren von Kartellbehörden finden hinter verschlossenen Türen und fast ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft statt. Sehr wohl Zutritt haben freilich Wirtschaftsberatunen, die für ihre Klienten wirtschaftliche Gutachten einreichen können. Durch diese „goldene Eintrittskarte“ ist eine neue Form der Einflussnahme entstanden: das Überfluten von Kartellbehörden mit Eingaben.
Aus dem Kreis der Kommissionsbeamt:innen der Generaldirektion Wettbewerb liegen uns Informationen vor, die darauf hinweisen, dass bei Prüfungsverfahren häufig so viele wirtschaftliche Bewertungen eingereicht werden, dass die Kartellbehörde ihr Pensum kaum bewerkstelligen kann. Da von ihr jede einzelne Sachverständigenmeinung geprüft werden muss, kann eine solche Taktik die Behörde an ihre Grenzen bringen und sie in die Defensive drängen.
Der ehemalige Chefökonom der Generaldirektion, Tommaso Valletti, äußerte sich in einem Interview mit der NGO „Balanced Economy Project“ besonders kritisch: „Ich habe miterlebt, wie sich die Berater eine bestimmte Arbeitsweise zunutze machen. Sie tun das in ganz großem Stil, um Zweifel zu erwecken. Sie bombardieren dich regelrecht. Sie sagen: ‚Also, diese Fusion könnte all diese hervorragenden Effizienzgewinne bringen. Diese Möglichkeit hier solltest du berücksichtigen.‘ Du weißt zwar, dass diese Sache in der Praxis keine Rolle spielen wird, aber dann liegt die Beweislast bei dir, wenn du als Behörde diese Behauptungen verwirfst. Das ist ein ganz mieses Spiel.“
Hilferufe aus der Wettbewerbsbehörde
In einem bisher unveröffentlichten wissenschaftlichen Artikel [Update: Der Artikel wurde am 18.4.2023 veröffentlicht.], der von einem Mitglied im Team des Chefökonomen in der Generaldirektion Wettbewerb mitverfasst wurde und uns vorliegt, bezeichnen die Autor:innen diese neue Lobbystrategie als „spamming the regulator“: Die Behörde werde mit Studien überflutet. Die Autor:innen weisen insbesondere darauf hin, dass sich aufgrund der unzähligen von Wirtschaftsberatungsfirmen eingereichten Dokumente „die Kartellbehörde unter Umständen für ein Unternehmen und dessen Fusion entscheidet, um so zu vermeiden, dass die Entscheidung später aus verfahrensrechtlichen Gründen vor Gericht angefochten wird.“
Unternehmen engagierten immer häufiger Beratungsfirmen, um die Kommission mit mehr Dokumenten überfluten zu können, so der Artikel. Von 2005 bis 2020 habe sich die Zahl der an Fusionskontrollverfahren beteiligten Beratungsfirmen sowie die Menge der eingereichten Dokumente mehr als verdoppelt. Gleichzeitig habe die Qualität der Eingaben jedoch nachgelassen. In einem Fall stellte die Kommission selbst fest, dass die Antworten der Beratungsunternehmen „oft sehr kurz gehalten und inhaltsleer“ waren.
Noch effektiver wird diese Strategie durch die vielen Seitenwechsel von der Generaldirektion Wettbewerb zu den Wirtschaftskanzleien, die dadurch genaues Insiderwissen über die Kartellbehörde bekommen.
Seitenwechsel: Zahlreiche Ex-Beamte wechseln zu Beratungsfirmen
Die große Zahl an Seitenwechseln von der Kartellbehörde zu den Wirtschaftskanzleien steigert die Gefahr für Interessenkonflikte. Ins Rampenlicht rückte diese „Drehtür“ durch mehrere Seitenwechsel hochrangiger Beamter: 2021 wechselten Carles Esteva Mosso und Cecilio Madero, vormals beide stellvertretende Generaldirektoren in der GD Wettbewerb, in die Anwaltskanzleien Clifford Chance bzw. Latham & Watkins. Die Europäische Bürgerbeauftragte bezog daraufhin beide Fälle in ihre Untersuchung zum Drehtüreffekt ein. Daniel Freund, Europaabgeordneter der Grünen, erklärte in einer Pressemitteilung: „Wir haben schon zu viele Drehtürfälle gesehen, wo [...] EU-Kartellanwälte die Seiten wechseln und Apple nicht mehr anklagen, sondern Apple verteidigen.“
Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Alle vier der hier genannten Wirtschaftsberatungsunternehmen haben frühere Beamte der europäischen und nationalen Kartellbehörden unter Vertrag. Im Brüsseler Büro von CRAI waren 2 der derzeit 8 Angestellten früher bei Kartellbehörden tätig, bei Compass Lexecon sind es 5 von 21, bei Oxera 3 von 9 Beschäftigten und bei RBB Economics 4 von 14. Auf gezielte Nachfragen von Corporate Europe Observatory und LobbyControl zu den Seitenwechseln reagierte leider keine einzige der Beratungsfirmen.
Philip Lowe, heute Partner bei Oxera, war früher Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb. Miguel de la Mano, früher Referatsleiter in der Generaldirektion Wettbewerb, ging 2015 als Executive Vice President zu Compass Lexecon und wurde 2022 Partner bei RBB Economics. Das große Problem dabei: Er war sowohl bei der Kommission als auch bei Compass Lexecon an Fällen im Zusammenhang mit dem Technologieriesen Qualcomm beteiligt.
Einige Beamte haben sogar mehrfach die Seiten gewechselt. So begann etwa Stéphane Dewulf seine Karriere bei LECG Consulting und RBB Economics und kam 2014 als Sachbearbeiter zur Generaldirektion Wettbewerb. 2020 ging er dann als Principal zurück zu Oxera. In einer Pressemitteilung zu dieser Personalie warb Oxera ganz offen mit Dewulfs frührer Funktion als Beamter der EU-Kartellbehörde: „Wir sind überzeugt, dass unsere Kunden seine Erfahrung als Berater und ehemaliger Kontrollbeamter besonders zu schätzen wissen.“ Ein weiteres Beispiel ist Gregor Langus, der 2007 zum Team des Chefökonomen der Generaldirektion Wettbewerb stieß. Charles River Associates ernannte ihn 2011 zum Senior Consultant und bei Compass Lexecon wurde er 2014 Senior Vice President. Im Jahr 2016 kam er dann zurück zum Chefökonomen bei der EU-Kartellbehörde, und wurde wiederum 2020 zum Vizepräsidenten bei Compass Lexecon ernannt. 2021 gründete er mit Competitionsphere seine eigene Beratungsfirma und veröffentlichte später eine Studie über die wirtschaftlichen Vorteile überwachungsbasierter Werbung, die von Meta finanziell unterstützt wurde.*
Ebenso besorgniserregend ist, dass der Chefökonom der Generaldirektion Wettbewerb sein Team regelmäßig mit Personal aus diesen Beratungsunternehmen besetzt. Aus öffentlichen Informationen geht hervor, dass von den 29 Beamten, die für den Chefökonomen der Kartellbehörde arbeiten, fast die Hälfte (13) früher als Wirtschaftsberater in der Privatwirtschaft tätig waren. Neun Beamte der Generaldirektion Wettbewerb waren früher bei Charles River Associates (CRAI), drei von ihnen waren die hochrangigen Beamten der Abteilung: der Chefökonom selbst und die beiden Referatsleiter.
Pierre Régibeau, seit 2019 Chefvolkswirt der EU-Kartellbehörde, kam 1998 als Academic Associate zu Charles River Associates. 2011 ernannte ihn dann CRAI zum Vice President. Laut der Website der Kanzlei war er an "richtungsweisenden Fällen“ wie Microsoft, Ryanair/Aer Lingus, Servier, Samsung und Android beteiligt.
Aus persönlicher Perspektive mögen diese Lebensläufe alle verständlich sein. Das schiere Ausmaß der beschriebenen Situation ergibt aber ein strukturelles Problem, da die zahlungskräftigen Kunden von Beratungsfirmen durch die Seitenwechsel Insiderwissen erhalten und von einem privilegierten Zugang zum Maschinenraum der EU-Wettbewerbspolitik profitieren. Eine Untersuchung der Europäischen Bürgerbeauftragten kommt u.a. zu der Bewertung: „Es besteht die Tendenz, schädliche Auswirkungen zu unterschätzen, wenn EU-Beamte ihr Wissen und ihre Netzwerke in verwandte Bereiche des privaten Sektors einbringen“
Mögliche Interessenkonflikte in Beratergruppe der Kommission
Auch über die „Economic Advisory Group on Competition Policy“ können Beratungsunternehmen Einfluss nehmen. Diese Beratergruppe soll im Auftrag der EU-Kommission „die wirtschaftliche Argumentation in der Wettbewerbspolitik verbessern“. Sie setzt sich zusammen aus Fachleuten der Wettbewerbsökonomie, von denen jedoch viele enge Verbindungen zu Wirtschaftsberatungsfirmen haben oder sogar direkt dort eingebunden sind. Von den 16 Mitgliedern des Beirats arbeiten sechs für Unternehmen wie Oxera, Bates White Economic Consulting, E.CA Economics, Charles River Associates oder Lear. Ein weiteres Mitglied zählt mehrere Techkonzerne zu seinen Kunden, darunter Qualcomm und Centurylink.
Das Mandat der Beratergruppe sieht vor, dass bestehende Interessenlagen von der Kommission auf mögliche Konflikte hin geprüft werden müssen. Wird ein solcher Konflikt festgestellt, kann die Kommission eine Bewerbung ablehnen oder die Ernennung an bestimmte Einschränkungen knüpfen. Ob die Kommission solche Einschränkungen bereits verhängt hat, ist nicht bekannt.
Lobbyarbeit hinter den Kulissen
Wirtschaftsberatungsunternehmen stehen mit den EU-Institutionen nicht nur dann in engem Kontakt, wenn sie Auftraggeber in Fusionsverfahren vertreten oder die Kommission in Sachverständigengruppen beraten. Sie veröffentlichen im Auftrag von Firmenkunden auch Studien und organisieren wichtige Veranstaltungen zur EU-Wettbewerbspolitik. Als in der EU die Debatte zum Gesetz über digitale Märkte (DMA) begann, prägten die Beratungsunternehmen von Anfang an die Diskussion, indem sie im Auftrag der Technologieriesen Berichte lancierten. Dabei ging es ihnen gerade auch um die Pläne der EU, mit dem DMA den Missbrauch einer Monopolstellung durch Technologieriesen einzuschränken.
Oxera erklärte in mehreren Papieren zum DMA, das Gesetz könne zu „Overenforcement“ führen und durch diese übermäßig strikte Kartellrechtsanwendung „Innovation behindern“. Eine der Studien war von Amazon in Auftrag gegeben worden, eine andere von der Computer and Communications Industry Association (CCIA), einem Lobbyverband, der sich sehr aktiv an der DMA-Debatte beteiligt hatte und die Interessen von Big Tech vertritt. Auch Googles aggressive Lobbystrategie zur Schwächung des DMA stützte sich auf eine Studie von Oxera, wie aus einer geleakten Google-Lobbystrategie deutlich wurde. LobbyControls Anfragen zu dieser Studie blieben jedoch bedauerlicherweise unbeantwortet. Oxera nahm indes mit seiner Eingabe bei der Konsultation zum Digital Service Act (DAS), dem Gesetz über digitale Dienste, direkt Einfluss auf die Kommission. In ihrem Beitrag drängte die Beratungsfirma die Kommission, bestimmte schädliche Praktiken weiter zuzulassen, so etwa die Selbstbevorzugung, bei der Unternehmen eigene Produkte auf der eigenen Plattform gegenüber ähnlichen Produkten von Drittanbietern bevorzugt anzeigen. Außerdem betonte der Bericht die „durch die Geschäftsmodelle der Plattformen geschaffene zusätzliche Effizienz und Wertschöpfung”.
Auch die Beratungsfirma Compass Lexecon verfasste im Auftrag von Google einen Bericht zum Gesetz über digitale Märkte (DMA) und veröffentlichte ihn im Juni 2021, als das Gesetzgebungsverfahren in vollem Gange war. Beteiligt an der Publikation war auch Miguel de la Mano, der bereits erwähnte ehemalige Referatsleiter bei der Generaldirektion Wettbewerb (siehe Abschnitt zu Seitenwechseln).
Auch Charles River Associates beteiligte sich an der Debatte um den DMA. Philip Marsden, Senior Advisor bei CRAI und ehemaliger Mitarbeiter der britischen Kartellbehörde CMA, gab „jammingdigital“, einem der wichtigsten netzpolitischen Podcasts in Brüssel, ein Interview zum Thema DMA. CRAI sponsert in Brüssel auch wichtige Veranstaltungen zur Wettbewerbspolitik, bspw. eine Konferenz zur EU-Fusionskontrolle im Jahr 2022. Einer der Redner zum Thema DMA war damals Oliver Latham, CRAIs Vice Präsident für europäisches Wettbewerbsrecht, der an der Fusion von Uber mit Grab und Careem beteiligt war. Wie die anderen Beratungsfirmen beteiligte sich auch RBB Economics an der Diskussion um den DMA. Benoît Durand, Partner bei RBB Economics in Brüssel, nahm etwa im Mai 2021 an einer Podiumsdiskussion zum neuen Digitalmarktgesetz teil.
Zeit für einen Paradigmenwechsel
Die Wirtschaftsberatungsunternehmen sind politisch derart umtriebig, dass man sie als das einstufen sollte, was sie sind: Lobbygruppen, die oft Großkonzerne vertreten. Deshalb müssen sie ihre Aktivitäten endlich transparent machen. Sie müssen dazu verpflichtet werden, sich in das EU-Transparenzregister einzutragen. Nur so kann ihre Arbeit in den Blick der Öffentlichkeit gerückt werden.
Gleichzeitig muss die Generaldirektion Wettbewerb ihre Rolle als unabhängige Regulierungsbehörde verteidigen. Sie muss besser über eingereichte Studien informieren; nicht nur von Beratungsfirmen, sondern von allen Beteiligten. So kann mögliches Spamming leichter entdeckt und zumindest angeprangert werden. Das fordern wir in einem offenen Brief an die zuständige Kommissarin Margrethe Vestager.
Zu guter Letzt muss sich die EU-Kommission endlich um die Interessenkonflikte kümmern, die durch die vielen Seitenwechsel zwischen EU-Kartellbehörde und Wirtschaftsberatungsunternehmen entstehen. Bestehende Vorschriften, einschließlich Karenzzeiten („cooling-off periods“), werden nur selten angewandt.
Bislang haben Techkonzerne die verdeckte Lobbyarbeit der Wirtschaftsberatungsunternehmen und die Geheimniskrämerei in der Wettbewerbspolitik geschickt für sich genutzt. Amazon, Meta und Co. kommt diese Heimlichtuerei mehr als gelegen. Ein erster wichtiger Schritt im Kampf gegen die Monopolmacht der Techkonzerne ist daher, dass sich die Kartellbehörden stärker öffnen und sich damit gegen einseitigen, undurchsichtigen Einfluss zur Wehr setzen.
Oder, wie es der ehemalige Chefökonom Tommaso Valletti in einem Interview nach seiner Amtszeit formulierte: „Diese Brüssel-Blase muss endlich zum Platzen gebracht werden."
Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die Studie sei von Meta in Auftrag gegeben worden. In der Studie wird jedoch nur auf die finanzielle Unterstützung hingewiesen: "Financial support from Meta inc. is gratefully acknowledged. The opinions and judgements expressed in the paper are the authors’ views and do not necessarily represent the views of Meta". Daher haben wir den Artikel entsprechend überarbeitet. Wir bitten dies zu entschuldigen.
Der Text wurde am 2.2.2023 aktualisiert.
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