Wer vielfältigere Parlamente will, sollte nicht Nebentätigkeiten verteidigen, sondern sich der Nachwuchsrekrutierung der Parteien widmen – und verhindern, dass die CDU in Hamburg das neue Wahlrecht wieder kippt.
Immer wieder taucht in der Debatte über Abgeordnete mit Lobby-Nebentätigkeiten das Argument auf, dass man sich ein vielfältig zusammengesetztes Parlament wünscht, in dem nicht nur Beamte und Lehrer sitzen. Dafür sei es wichtig, Nebentätigkeiten zu erlauben. Seltsam nur, dass auch eine völlige Freigabe von Nebentätigkeiten – wie es momentan der Fall ist – offensichtlich nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt (wobei die größte Gruppe im Bundestag in Wirklichkeit die Rechtsanwälte sind). Also kann das Argument nicht ganz stimmen. Tatsächlich ist der entscheidende Faktor für die Zusammensetzung des Bundestags nicht die Frage der Nebentätigkeiten, sondern die Art der Nachwuchsrekrutierung durch die Parteien selbst – in der Regel eine mehrjährige „Ochsentour“ durch die verschiedenen Parteiebenen, die viel Zeit und berufliche Flexibilität erfordert. Wer ein vielfältigeres Parlament will, muss sich mit diesem Problem befassen.
Ein wirksamer Hebel dafür könnte das Wahlrecht sein. Man kann Wählerinnen und Wählern Einfluss auf die Reihenfolge der Wahllisten geben, so dass sie nicht nur den von der Partei vorgegebenen Direktkandidaten oder die Kandidaten in der Reihenfolge der Wahllisten wählen können, sondern einzelne Kandidaten auch von hinteren Listenplätzen gezielt nach vorne wählen können. Damit können Seiteneinsteiger eine größere Chance bekommen. Auch ohne komplette „Ochsentour“ und ausreichende parteiinterne Unterstützung für einen vorderen Listenplatz könnten sie bei breiter öffentlicher Unterstützung ein Mandat erreichen. Umgekehrt würde ein solches Wahlrecht auch die Möglichkeit bieten, von einer Partei vorne auf der Liste platzierte Kandidatinnen oder Kandidaten nach hinten zu versetzen. Am Beispiel Reinhard Göhner betrachtet: Göhner wurde über die Landesliste der CDU in NRW gewählt. Wer also in NRW CDU wählen wollte, musste Göhner mitwählen – ob er wollte oder nicht. Bei einem veränderten Wahlrecht hätten Wählerinnen und Wähler sagen können: Ich unterstütze die CDU, aber nicht Herrn Göhner, sondern einen anderen Kandidaten.
In Hamburg wurde vor zwei Jahren in einem Volksentscheid ein neues Wahlrecht durchgesetzt, das solche Mechanismen vorsieht. Der regierenden Hamburger CDU passt das allerdings gar nicht. Sie möchte das neue Wahlrecht wieder kippen – trotz gültigem Bürgerentscheid. Denn das neue Wahlrecht stellt die Macht der Parteifunktionäre in Frage, die stark vom Einfluss auf die Vergabe von aussichtsreichen Listenplätzen und Direktkandidaturen abhängt. Der Wunsch nach einem vielfältigeren Parlament scheitert also an parteiinternen Widerständen gegen eine offenere Nachwuchsrekrutierung – nicht an der Frage der Nebeneinkünfte. Und jeden oder jede, die dieses Argument trotzdem für die Verteidigung aller Nebeneinkünfte benutzt, muss man eigentlich fragen: Wie halten Sie es mit dem Hamburger Wahlrecht? Finden Sie es richtig, dass die CDU dort das neue Wahlrecht wieder kippen will?
Wer sich weiter über den Fall Hamburg informieren will: www.faires-wahlrecht.de
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